Lene
Selbst nachdem ich meine Augen öffnete, sah ich nichts als Dunkelheit. Verwirrt richtete ich meinen Oberkörper auf und dachte angestrengt nach. Einem Faustschlag gleich traf mich die Erkenntnis: Ich wurde gekidnappt von der reichen und mächtigen Familie Kerr. Irgendwo auf ihrem riesigen Anwesen hielten sie mich gefangen und erwarteten ein demütiges Verhalten von mir, gegenüber Pascal und Alec. Erschüttert ließ ich mich zurück auf das harte Polster der Pritsche sinken und schloss die Augen. Hielt ich sie nur lange genug geschlossen, würde ich vielleicht in der Realität aufwachen, in welcher es keine Kerrs gab, ich ein ruhiges Leben führen- und ein ganz normales Mädchen sein könnte.
Ich würde mit Alien, meiner Mutter und meinem Vater zu Hause leben und meine einzige Sorge wären das Abitur und das Studium. Vielleicht wäre sogar Randi an meiner Seite...Unverhofft ertönte das metallische Kratzen des Riegels an meiner Tür. Wie elektrisiert sprang ich aus meiner liegenden Position auf und stellte mich dem Eintretenden gegenüber, bereit zum Angriff, wenn es sein musste. Doch meine Erwartungen wurden zerschlagen. Eine alte Frau trat herein mit einem Tablett, auf dem sogar eine kleine Kerze stand, die ihr von Falten geprägtes Gesicht erhellte. Sie lächelte mich freundlich an, stellte das Tablett vor mich auf den Boden und deutete nickend mit dem Finger darauf. Neugierig trat ich einen Schritt näher heran. Sie hatte mir Ftühstück gebracht, zwei Scheiben Brot, einen winzigen Klecks Marmelade in einem Schälchen, dazu einen Apfel und eine Plastikflasche mit Wasser. Verdutzt sah ich zu der alten Dame. Sie war kaum größer als ich und ging leicht vornüber gebeugt. Sie war mindestens 80 Jahre alt, mutmaßte ich.
„Dankeschön.", hauchte ich und setzte mich auf den Boden zum Tablett. Die Frau lächelte einfach weiter. Sprach sie überhaupt meine Sprache? Sie wirkte so fehl am Platz, unmöglich konnte sie in Alecs Machenschaften miteinbezogen sein. Oder irrte ich mich? Alec konnte äußerst charmant sein, wenn er wollte. Oder war sie unter Umständen auch eine Kerr?
Nachdenklich griff ich nach einer Scheibe Brot und tunkte die dunkle Kruste in die Marmelade. Nach einem herzhaften Biss verzog ich genießerisch das Gesicht. Es schmeckte furchtbar, da musste ich mir nichts vormachen, doch erst jetzt bemerkte ich wie hungrig ich tatsächlich war.„It's very good, thank you.", sagte ich zu der Frau und versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln. Auch diese Sprache schien ihr fremd zu sein, doch sie schien mich trotzdem zu verstehen, zwinkerte mir zu und verließ den Raum. Unruhig flackerte das Licht der Kerze vor meinen Augen auf als die Tür sich schloss, doch sie erlosch nicht. Sie spendete nur einen Hauch von Wärme und Licht, doch ich kam nicht umhin die Kerze unablässig anzustarren. Ich legte das Brot beiseite und beugte mich näher an die Lichtquelle heran. Der Abstand verringerte sich immer weiter. Ich beobachtete aufmerksam den Tanz der Flamme, den glühenden orangefarbenen Kern und den in Zeitlupe abbrennenden Docht. Meine Nasenspitze brannte in der Hitze, doch ich wollte mich nicht von der Kerze entfernen. Ich wollte sie bei mir behalten und brennen lassen, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Ich schmeckte Salz in meinem Mund. Eine Träne hatte sich davon gestohlen. Ich blinzelte und die Flamme verschwamm zu einem einzigen hellen Fleck. Das muss Hoffnung sein!, dachte ich im Stillen und ließ weiteren Tränen freien Lauf. Stumm weinte ich um die Schönheit dieses kleinen Lichtblicks, weinte um meine Jugend und trauerte um meine Zukunft. Mir wurde bewusste, dass ich keine normale Jugend hätte haben können. Doch wem sollte ich dafür die Schuld geben? Meiner Mutter, weil sie mich und meinen Vater verlassen hatte? Meinem Vater, weil er sich aufgegeben hatte? Vielleicht sogar meinem ehemaligen Schwarm Emilio, weil ich dank seinem Desinteresse an Pascal geraten war?
Gedankenverloren griff ich nach der Wasserflasche und trank einige kräftige Schlucke. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher trat mir die Antwort vor Augen: niemand trug Schuld an meiner Situation. Jeder Mensch ist selbstverantwortlich für sein Leben und ich hatte mich einfach für die falschen Menschen entschieden. Zu oft hatten mich Äußerlichkeiten in der Vergangenheit geblendet, was es mir erschwerte gute von schlechten Menschen zu unterscheiden.
Ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass mir das beinahe wieder passiert wäre. Randi war vielleicht nicht reich und kam aus schwierigen Verhältnissen, aber bis zuletzt war er der einzige Mensch, der nicht vor mir weglief, als er mein wahres Ich zu sehen bekam. Der mir zur Seite stand, als es richtig gefährlich wurde und das, obwohl ich ihn nicht gut behandelt hatte. Außerdem kannte er mich kaum, doch er war seit drei Jahren der einzige Mensch, der mich nicht alleine gelassen hatte.
Ich dachte an sein schwarzes wuschliges Haar, die intensiven braunen Augen und das Gefühl, das er mir gegeben hatte: Schutz.Entschlossen wischte ich mir die Tränen mit dem Handrücken von der Wange. Randi würde nicht aufgeben mich zu suchen, das wusste ich genau! Er wollte mich unterstützen und würde nun nicht aufgeben. Wenn Randi bereit war zu kämpfen, wollte ich das auch tun. Das kleine naive Mädchen, das mit Leichtigkeit auf Pascal reingefallen war, existierte nicht mehr. Ich war jetzt 19 Jahre alt, eine junge Frau und würde mich als solche auch benehmen. Alec und Pascal waren überzeugt, mich hier in diesem dunklen Raum brechen zu können, mir den Gehorsam einzubleuen, doch ich würde ihnen trotzen. Keine Tränen mehr! Wenn ich meine Freiheit besitzen wollte, musste ich dafür Kämpfen. Ich war bereit.
Das hier war noch lange nicht das Ende, sondern erst der Anfang! Von neuer Energie beflügelt pustete ich die Kerze aus. Sofortige Dunkelheit umlagerte mich. Lediglich der herbe Duft von Rauch lag noch in der Luft und erinnerte an die kleine Flamme, die mir meinen Lebenswillen deutlich vor Augen geführt hatte.
Mit grimmiger Miene tastete ich nach dem Brot. Wollte ich hier rauskommen, musste ich mich fit halten. Und ich würde hier rauskommen, soviel stand fest!
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When Worlds Collide
RomanceAls Randi seine Heimat verlässt um bei seinem Bruder in Deutschland ganz neu anzufangen, trifft er auf die schüchterne Lene. Für Randi scheint sie ziemlich langweilig zu sein, bis er von ihrem dunklen Geheimnis erfährt. Bald stellen die beiden fest...