F L O R E N C E
23 Tage bis Weihnachten
Wie jeden Morgen stand ich auf, nachdem mich meine Mutter sanft geweckt hatte. Ich schwang meine Füße aus dem Bett, nahm meinen Stab in die Hand und ging den Weg zu meinem Kleiderschrank, den ich schon im Schlaf beherrschte. Wie immer griff ich nach einem frischen Stoß Kleidung, den mir meine Mutter am Vorabend herichtete. Er bestand aus einem Oberteil, einer Jeans und frischer Unterwäsche. Ohne meine Mutter würde ich vermutlich nie so gut zurechtkommen wie ich es tat, aber dennoch irgendwann musste ich es.
Die morgentliche Routine, die aus Zähne putzen, Haare kämen und anziehen bestand, war schnell erledigt und ich machte mich auf den Weg zur Arbeit. Ich arbeitete in einem Blindenmuseum. Klassenweise können uns Schüler besuchen und bekommen Einblick in das Leben eines blinden Menschen. Sie werden in einen großen, dunklen Raum geführt, indem sie nicht einmal die Hand vor ihren Augen sehen können. Handys oder andere Geräte, die Licht verursachen könnten sind nicht gestattet.
Ich liebte es Jugendlich durch das Museum zu führen, ohne das sie wussten wer ich bin oder wie ich aussah. Ich liebte meinen Job, da ich anderen Menschen zeigen konnte, wie anders man Dinge betrachtet, wenn einem das Augenlicht genommen wurde. Man kann sich alles vorstellen wie man möchte, man kann seiner Fantasie freien Lauf lassen. Man nimmt vieles besser wahr, Geräusche, Gerüche, Bewegungen. Man muss sich ganz und alleinen auf sein Gehör und seine anderen Sinnesorgane verlassen.
"Ich bin dann mal weg Mum", schrie ich ihr zu und schloss die Tür hinter mir. Ich konnte meine Arbeitsstelle leicht zu Fuß erreichen, was mir wirklich sehr wichtig war. Mit dem Bus zu fahren, war des öfteren eine Herausforderung für mich, da es manche Busfahrer nicht für nötig hielten, die Stationen anzusagen und ich deswegen schon ein paar Mal ein paar Haltestationen zu viel gefahren bin. Ich ging die fünf Treppen vor meiner Haustür hinunter, sieben große Schritte nach vor und grif nach dem Türknopf unseres Gartentores. Wie erwartet hielt ich den eiskalten Knopf in der Hand und drehte ihn. Das Tor bewegte sich und ich konnte auf die Straße treten.
Da wir bereits Winter hatten, konnte ich den Schnee unter mir knirschen hören und ich genoss das Gefühl. Seit meinem Unfall war Weihnachten und der ganze Trubel drum herum, Schnee mit eingeschlossen, ein Tabu Thema für mich, doch irgendwie freute ich mich dieses Jahr darauf. Ich ging die Straße entlang und zählte dabei jeden meiner Schritte mit. Es fällt mir leichter ungefähr zu wissen, wo ich mich gerade befand, als einfach planlos in der Gegend rum zu irren. Mein Stock stieß ein paar Mal gegen eine Laterne, doch ich selbst blieb verschont.
Nach gut zehn Minuten kam ich in der Kreuzung an, was mir der Lärmpegel der vorbeifahrenden Autos mitteilte. Ich tastete mit meinem Blindenstock nach der Laterne an dem das Gerät befestigt sein sollte und fand sie auch bald darauf. Ich konzentrierte mich darauf, den Lärm der vorbeifahrenden Autos auszublenden und nach dem tickenden Signal zu lauschen, dass mir angab, wann ich sicher über die Straße gehen konnte. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte das Ticken nicht wahrnehmen. Vorsichtig näherte ich mich der Laterne ein Stück und legte eine Hand darauf. Die Laterne war glatt, nass und eiskalt. Ich konnte sie nur schwer bewegen, da meine Finger aufgrund der Minusgrade, die es hatte, leicht an der Laterne kleben blieben. Langsam fuhr ich die Laterne auf und ab und fand auch das Gerät, doch hören konnte ich es nicht.
Ich klopfte ein paar Mal darauf, versuchte einen Schalter zu finden, welcher das Gerät wieder zum Laufen bringen sollte, doch nichts passierte. Es blieb stumm und ich hatte keine Ahnung, ob ich mich über die Straße wagen konnte. Andere würden meinen ich könnte mich an den Geräuschen der Autos orientieren. Fuhren sie, war es rot, stehen sie, war es grün, doch so einfach war es nicht.
Was sollte ich jetzt tun? Ohne dieses Ticken war ich verloren. Es könnte über Leben unt Tod entscheiden. Ich stand nun mittlerweile schon zehn Minuten an dieser Ampel ohne voran zu kommen und würde mit Sicherheit zu spät zu Arbeit erscheinen, doch ich konnte und wollte mein Leben nicht aufs Spiel setzen. Nicht jetzt. Nach meinem Unfall dachte ich lange, dass ich es verdient habe erblindet zu sein, doch heute seh ich die Sache anders. Gott hat mir mein Leben geschenkt. Ein ziemlich wertvolles um genau zu sein. Durch meine Erblindung wurde mir zwar mein Augenlicht genommen, aber eine Gabe geschenkt, die kein Mensch mit Augenlicht je haben könnte. Die Gabe die Umwelt mit anderen Augen zu betrachten. Nicht die zwei Augen, die jeder Mensch ober der Nase tägt, nein, sondern die inneren Augen. Das was ich aufnehme, was ich höre, was ich fühle, wird in mein Gehirn aufgenommen und ich male mir ein eigenes Bild davon, ein Bild das vielleicht nicht der Realität entspricht, aber zumindest ein Bild, dass meiner eigenen Fantasie entsprungen ist.
Leider half mir diese Gabe momentan auch nicht weiter, da es schwer für mich ist, verschieden Geräusche gleichzeitig auzunehmen und mir ein Bild davon zu malen. Die Motorgeräusche, das Klingeln der Fahrradglocken, das Hupen der Straßenbahnen. Es war noch früh Morgens und keine Menschenseele um mich herum war zu hören, dachte ich jedenfalls.
"Kann ich dir irgendwie helfen?", hörte ich plötzlich eine tiefe, aber dennoch freundliche Stimme hinter mir sagen. Vor Schreck ließ ich meinen Stock fallen, ohne den ich ziemlich hilflos war. "Shit!", fluchte ich laut. Ich spürte einen Luftzug neben mir und vermutete, dass sich der Fremde gerade nach meinem Stock gebückt hatte. "Hier", sagte er und berührte mit dem Stock meine Hand. Sofort umschloss ich ihn wieder fest mit meiner rechten Handfläche und schwor mir ihn nie wieder fallen zu lassen.
"Sag mir wenn das Licht grün ist", antwortete ich ihm schließlich. Eine Zeit lang blieb es still, doch nach ein paar Sekunden erhielt ich eine Antwort.
"Jetzt."
"Danke", sagte ich und ging über den Zebrastreifen. Vorsichtig tastete ich mich auf meinem Weg weiter voran, bis ich schließlich vor der Tür meiner Arbeit ankam.
"Hey warte mal!", hörte ich die Stimme, die mir einige Minuten zuvor noch meinen Arsch gerettet hatte. Ich blieb stehen und drehte mich um.
"Ich bin übrigens Luke."
"Florence, aber ich muss jetzt echt los. Danke nochmal."

DU LIEST GERADE
Greenlight ❆ l.h ✔
FanficWas tun, wenn du das grüne Licht nicht sehen kannst? Was wenn das Ticken nicht mehr zu hören ist und du ohne dieses Ticken verloren bist? "Kann ich dir helfen?" "Sag mir wenn das Licht grün ist." © hemmoxic | 2014 cover by -trilxgy