Kapitel 15: Tag

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Die Nacht war kurz, so wie viele meiner Nächte in letzter Zeit. Seit Sheru da war, war nichts mehr wie zuvor und alles was ich wollte, waren Antworten, die unmöglich zu geben schienen.

Mein Vater merkte, dass etwas nicht stimmte, doch er sagte nichts, denn er wusste, ich würde mit ihm sprechen, wenn ich es nur wollte.

Den gesamten Schultag über beachtete ich weder Amber, noch den Unterricht wirklich. Stattdessen schmiedete ich einen Plan. Ich würde Sheru heute nach der Schule verfolgen. Wohin auch immer, Hauptsache ein Ort, an dem er mich nicht erneut bloßstellen können würde.

Der Schultag verging langsam und doch fand er ein viel zu schnelles Ende. Ich verabschiedete Amber nur schnell im Vorbeigehen und spürte ihren verwirrten Blick auf meinem Rücken, während ich versuchte, Sheru hinterherzukommen, ohne, dass es auffällig wurde.
Er ging so schnell, fast, als würde er fliegen.
Ich hielt mich weitestgehend im Hintergrund, um unbemerkt zu bleiben, und hoffte mit jedem Schritt, dass er den Bus nehmen würde. In ein Auto würde ich mich wohl kaum unbemerkt einschleichen können. Aber die Vorstellung war schon witzig:
*Tür Nummer eins geht auf*
*Tür Nummer zwei geht auf*
*Sheru blickt verwirrt Bach hinten*
Ich: Moin, Sheru, ich komme heute mal mit!
Sheru: Nein!
*Stille*
*Ich steige aus*
Ok, ich gebe zu, so witzig wäre es vielleicht doch nicht gewesen.

Ausnahmsweise hatte ich Glück und er überquerte den Parkplatz, blieb erst bei der Haltestelle stehen. Ich würde so zwar in die entgegengesetzte Richtung von Zuhause fahren, aber das war mir in dem Moment egal. Ich wartete hinter dem kleinen Haltestellenhäuschen aus Holz, damit er mich auch wirklich nicht bemerkte. Irgendwie hatte ich die Angst, wie einer Stalkerin herüber zu kommen, doch als mir wieder einfiel, wie er mitten in der Nacht durch mein Fenster in mein Zimmer einstieg, verflog dieses Gefühl seltsamerweise...
Das was Sheru sich leistete war um einiges schlimmer, als sich bloß in den selben Bus zu setzen.

Der Bus leerte sich mit der Zeit immer weiter. Irgendwann schlich ich auf den hintersten Platz, da Sheru vorne saß, und ich hoffte, dass er mich so nicht sehen würde.

Je weiter wir fuhren, desto unsicherer wurde ich. Wo fuhren wir hin? Meinem Zeitgefühl nach waren wir schon längst aus der Stadt raus. Und so sah es hier auch aus. Während die Häuser immer weniger wurden, wurden die Bäume immer mehr und mit jeder Haltestelle schienen mir diese unbenutzter. Niemand stieg mehr ein, niemand aus. Neben mir und Sheru war der Busfahrer der einzige Verbleibende in diesem Bus ins Nirgendwo. Mein einziger Hoffnungsschimmer war, dass Sheru durchgängig aus dem Fenster blickte und nichts Anderem als der Natur auch nur eines Blickes zu würdigen schien.

Als Sheru aufstand bekam ich es erst einmal gar nicht mit. Zu gefesselt war ich von dem Anblick, der sich mit bot. Rechts das alte Haus, links der Wald. Die Umgebung, die ich kannte, als hätte ich mein Leben hier verbracht und doch nie wirklich da war.

In letzter Sekunde sprang ich auf und rannte durch die Tür, die der Busfahrer gerade wieder schließen wollte. Ich hörte ihn noch genervt vor sich hin murmeln, doch ich achtete nicht weiter darauf.

Schnell, aber bedacht folgte ich Sheru, der geradewegs auf das alte Haus zuging.
Ich versteckte mich hinter einem Baum im Vorgarten des Hauses, um zu vermeiden, erwischt zu werden, und wartete dort, bis er die Tür hinter sich schließen würde. Was ich dann tun würde wusste ich noch nicht, doch ich nutzte die Zeit, mir das Haus genauer anzugucken, schließlich hatte ich bisher nicht wirklich die Möglichkeit dazu.
Es war wirklich alt. Aber schön. Ein Reetdach gab dem Haus seinen gewissen Charme und die kleinen Risse in den Wänden wirkten nicht bedrohlich, als könne jeden Moment alles in sich zusammenbrechen, sondern sie zeigten eher, wie alt das Haus bereits war und trotz alle dem noch stand, und auch noch lange stehen wird.

Aus meinem Plan wurde allerdings nichts. Dieser fand ein plötzliches Ende, als:
„Ich weiß, dass du da bist, Ari."
Seine raue Stimme erklang von der Tür aus und jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Niemand, außer Amber und meine Mom nannten mich Ari.
Aber, viel schlimmer noch war, dass er mich bemerkt hatte. Aber... Wie... ?
„Du kannst aus deinem Versteck raus kommen. Der Baum bietet eh keinen besonders guten Sichtschutz."

Was tat ich jetzt? Er wusste es. Er wusste, dass ich ihm gefolgt war!
Gestresst steckte ich mir eine lose Strähne hinters Ohr und überlegte.
Wenn er sauer wäre, würde seine Stimme nicht so nett klingen, oder?

Ich entschloss mich schließlich dazu, seiner Anweisung zu folgen. Schließlich hatte ich bisher eh nicht die Chance mich gegen diese zu wehren.
Ganz langsam trat ich um den Baum herum in Sherus Richtung. Er musterte mich belustigt.
Was er daran lustig fand, blieb mir allerdings ein Rätsel.

Kurz vor ihm blieb ich stehen und hielt mich am Saum meines Shirts fest, um meine zittrigen Hände zu verbergen.
Ich wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Zu groß war die Angst vor ihm und seiner Wirkung auf mich.

„Komm mit rein.", sagte er, öffnete die Tür noch ein Stück weiter und ließ mir den Vortritt. Es dauerte ein paar Sekunden, in denen ich abwägte, ob es wirklich so schlau wäre, sein Haus zu betreten, mir letztlich allerdings nichts anders übrig blieb, und ich ihm erneut gehorchte als wäre es selbstverständlich alles zu tun, was er mir sagte.

Von innen sah das Haus nicht anders aus, als von außen. Kleine Risse zierten die Wände, alte Holzmöbel standen überall, wo sich auch nur ein kleines bisschen Platz dafür bot und neben einigen Lampen schien es hier drin keine Elektronik zu geben.
Ganz langsam ging ich durch den Eingangsbereich in einen Raum, mit einem schwarzen Sofa, vermutlich war es das Wohnzimmer. Als ich es betrat wurde ich mit jedem Schritt unruhiger. Was, wenn er nun versuchen würde, mich umzubringen? Niemand würde mich hören!
„Ich tue dir schon nichts.", versuchte er mich zu beruhigen, allerdings tat er damit eher das Gegenteil. Konnte er jetzt auch noch Gedanken lesen?
„Nein, kann ich nicht, aber dein Gesicht spricht Bände."
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. So ganz glaubte ich ihm die Nummer nicht. Wie kann man gleichzeitig auf Gedanken antworten und behaupten, man hätte sie nicht gelesen?
„Ich meine es ernst, Ari. Deine Gedanken gelangen durch die kleinsten Muskelbewegungen in deinem Gesicht nach außen. Selbst, wenn ich nur deine Augenbrauen sehen könnte, wüsste ich genau, was du denkst."
Bin ich wirklich so durchschaubar? Dann ist es ja nicht mal schlimm, dass ich nicht viel rede. Nur halt für mich. Schließlich hat es Gründe, dass ich wenig rede...
„Ich mag es, dass du noch kein Wort gesagt hast und es sich dennoch nicht anfühlt wie ein Monolog."
Ich sagte nichts dazu.
„Also, warum bist du hier?", doch noch bevor ich überhaupt antworten konnte unterbrach er mein krampfhaftes Suchen nach einer Antwort, „Ach, was frage ich überhaupt?"
Stille.
Na, wenn das alles so klar ist, dann gib mir doch meine Antworten!
Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, doch ich blieb weiterhin stumm.
„Fragen musst du aber schon selbst.", antwortete er erneut auf meine Gedanken.

Ich überlegte einen Moment, was jetzt das schlaueste sein würde, was ich tun könnte. Fragen gaben schließlich immer auch etwas über mich selbst Preis..
Dennoch fragte ich. Natürlich...

„Wer bist du?", stellte ich ihm erneut die Frage, die ich ihm bereits in der Schule, auf dem Flur stellte.
Er lachte kurz auf bevor er antwortete: „Sheru."
Ich schüttelte den Kopf.
„Wer du bist. Nicht, wie du heißt."
Ein kurzes Blitzen in seinen Augen ließ mich aufschrecken.
Er verstummte das erste mal und ein Schleier legte sich über sein Gesicht, als würde dieser all seine Emotionen auslöschen.
Die Stille ließ mein Zittern schlimmer werden. Was hatte ich falsch gemacht?

Wie aus dem Nichts stand Sheru auf, kam auf mich zu. Oh Gott, würde das Gewitter mich nun umbringen?
Panisch krallte ich meine Nägel in das Sofa Kissen.

Doch er tötete mich nicht.
Stürmisch legte er seine Lippen auf meine, stützte seine Hände hinter mir ab. Für ein paar Sekunden lähmte mich der Schock, doch ich wehrte mich nicht. Ich erwiderte. Wie von allein krallten sich meine Hände in seine schwarzen Nackenhaare und ich schloss meine Augen. Scheiße, war er heiß!
Ich wusste nicht warum ich es zuließ, doch ich konnte nichts dagegen tun.
Ich zog ihn weiter zu mir herunter und mich durchfuhr ein Blitz nach dem anderen.
Er schmeckte nach Regen, seine Küsse durchführen mich wie der Donner und jagten Blitze durch meinen gesamten Körper.

Doch genauso schnell wie es angefangen hatte, endete es auch wieder. Wie aus dem Nichts, riss er sich los, stolperte zwei Schritte nach hinten, starrte mich für ein paar Sekunden an, fuhr sich durch die Haare und setzte sich wieder.

„Ich bin dein größter Alptraum."

Sheru || Wenn sich Wirklichkeit mit Traum vermischtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt