Kapitel 6: Tag

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„Ari!", brüllte jemand in mein rechtes Ohr.
Erschrocken riss ich die Augen auf und wünschte mir im nächsten Augenblick, Zuhause geschlafen zu haben.
Ich hätte weiter träumen können, verdammt!

„Entschuldige.", flüsterte Amber unsicher, „Du würdest so kalt, hast gezittert. Ich bin aufgewacht und wusste nicht, was ich tun soll. Du schienst zu erfrieren!"
Perplex starrte ich sie an, selbst nicht so genau wissend, ob es jetzt gut oder schlecht war, dass sie mich aufgeweckt hat. Wenn selbst Amber bemerkte, wie kalt ich wurde, wer weiß, vielleicht wäre ich dann wirklich bald erfroren...

„Was war das?", flüsterte Amber so leise, dass ich sie kaum verstand.
„Ich weiß es nicht...", erwiderte ich, ebenfalls flüsternd.

Es vergingen einige Minuten, in denen keiner etwas sagte, bis Amber es nicht mehr auszuhalten schien und fragte: „Wie spät ist es eigentlich?", während sie bereits dabei war, das selbst herauszufinden.
„Kurz nach fünf...", nuschelte sie vor sich hin und seufzte, bevor sie an mich gerichtet fragte: „Wollen wir schon aufstehen? Du kannst wahrscheinlich eh nicht mehr schlafen, oder? Und mir wird kalt neben dir."
Langsam nickte ich und richtete mich noch viel langsamer auf.
So musste es sich anfühlen, wenn man am Nordpol nackt einschläft...

„S-soll ich dir helfen?", stotterte Amber. Man merkte ihr an, dass es ihr Angst machte. Mir mittlerweile auch. Das konnte einfach kein Zufall mehr sein!
„Geht schon.", lehnte ich ihr Angebot ab und erhob mich mühselig vom Bett.
Wie sollte ich diesen Tag bloß überstehen? Wie sollte ich die nächsten Nächte überstehen...?

Glücklicherweise hatte Amber eine große Auswahl an Tees im Angebot und ich nahm dankend eine Tasse Pfefferminztee an.
Nur sehr langsam begann ich, meinen Körper wieder zu spüren. Mein Blut schien, als sei es gefroren und würde nun wieder auftauen und durch meine Adern zu fließen beginnen.

Besorgt musterte Amber mich, während ich mich an ihren Müsli Vorrat machte.

„Was machen wir jetzt?", fragte sie mit vollem Mund, nachdem sie sich mit einer Schüssel neben mich setzte.
„Ich weiß es wirklich nicht.", gab ich zu.
„Das ist so unglaublich seltsam!"
Nickend gab ich ihr Recht. Ja, das war es.

Doch es sollte nicht besser werden...

Amber und ich kamen gerade noch rechtzeitig im Klassenraum an. Wir haben einen Bus verpasst, weil wir zu lange über meine Träume grübelten, letztlich jedoch auf keine Antwort kamen. Das ganze war nicht normal, das war klar. Aber was ich tun sollte blieb eine riesig große Frage.

„Ey, wer ist das?", holte mich Amber aus meinen Gedanken. Ziemlich desinteressiert folgte ich ihrem Blick. Das Desinteresse wandelte sich jedoch ganz schnell in pure Angst, als ich ihn sah.
Wie in Trance starrte ich ihn an. Für eine Millisekunde trafen sich unsere Blicke und eine Gänsehaut breitete sich auf meinem gesamten Körper aus. Das war er!

Eine Hand vor meinem Gesicht riss mich aus dieser Trance.
„Ari!", rief Amber beinahe. Einen Augenblick hatte ich Angst, das würde seine Aufmerksamkeit auf uns richten, doch das tat es nicht.
„Das ist er...", flüsterte ich kaum hörbar, doch sie verstand. Ihr Blick sprach Bände. Sie glaubte mir nicht ganz. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, doch sie dachte sicherlich, es läge an mir, und ich bildete mir etwas ein.

Doch das tat ich nicht.
Ich spürte die Kälte meine Beine hoch kriechen, doch in dem Moment war es nicht unangenehm. Es war, wie in meinen Träumen.
Am liebsten würde ich zu ihm gehen und ihn ausfragen, doch das tat ich nicht. Er würde mich wahrscheinlich für verrückt erklären, bevor er mich überhaupt kennt. Ich hoffte immer noch, dass Amber dies nicht tat.

Vermutlich gab es eine ganz simple Erkältung für das ganze.
Wahrscheinlich war ich einfach nur etwas angeschlagen, deshalb war mir so kalt. Und träumen kann man nur von Menschen, die man bereits gesehen hat, das Gehirn erschafft keine 'neuen' Menschen im Traum. Also habe ich ihn bestimmt einfach schon mal irgendwo gesehen, er ist mir nicht aufgefallen, doch mein Kopf dachte sich so: Von dem könnte man ja mal träumen. Und weil es mich so beschäftigte, träumte ich dann öfter von ihm.
Wenn ich so darüber nachdachte, wäre es schon sehr peinlich gewesen, ihn darauf anzusprechen. Dennoch blieb die Frage: Was tat er hier? War er ein neuer Mitschüler? War das alles wirklich Zufall?

Ms Edwards holte mich zurück in die Realität, als sie auf ihren nervigen Stöckelschuhen den Klassenraum betrat.

„Sheru?", schallte ihre schrille Stimme durch die Klasse. Der neue sah auf und wartete auf das, was Ms Edwards wohl zu sagen hätte.
„Magst du einmal nach vorne kommen und dich vorstellen?"

Mit dem selben leeren Blick, wie er ihn in meinen Träumen hatte, stand er auf und schlurfte zum Lehrer Pult.
Mein Herz begann erneut zu rasen, als er seinen Blick durch die Klasse schweifen ließ und sein Blick bei mir hängen blieb. Es schien ihn für einen kurzen Moment aus der Fassung zu bringen, doch dann tat er, was wir alle von ihm erwarteten.

„Hallo. Ich bin Sheru und ich bin neu in eurer Klasse."
Sichtlich verwirrt stand Ms Edwards zu seiner Rechten.

„Ja... Okay... Du, ähm, kannst dich wieder setzen.", stottert sie. Ein leises Kichern erfüllt den Klassenraum. Ms Edwards bringt man nicht so leicht aus der Fassung und dieser Sheru hat es einfach dadurch geschafft, dass er getan hat, was sie sagte.
Mir war allerdings nicht nach Kichern zumute. Seine Anwesenheit machte mir Angst, auch, wenn ich mir versuchte einzureden, dass sei alles normal und zu erklären. Doch irgendwo wusste ich, dass es das nicht war.

Warum hat er gestockt, als er mich sah?

Den ganzen Tag über bekam ich rein gar nichts vom Unterricht mit. Ich war in Gedanken bei Sheru und meinen Träumen. Habe abgewägt, ob es schlau wäre, ihn vielleicht doch anzusprechen, doch er sprach mit niemandem und da ich ohnehin schon Angst vor ihm hatte, tat ich es letztendlich nicht, sondern beschloss abzuwarten, was die nächste Nacht mit sich bringen würde.

Amber verabschiedete sich am Schulschluss mit einer Unsicherheit von mir, die ich noch nie von ihr erlebt habe. Sie versuchte zwar es zu vertuschen, doch es funktionierte nicht.

Zuhause war es genauso ruhig wie immer, seitdem Mom nicht mehr da ist. Sie hat immer Leben in das Haus gebracht mit ihrer offenen, herzhaften und fröhlichen Art.
In solchen Momenten vermisste ich sie sehr. Obwohl es bereits über ein Jahr her war, dass sie bei einem Autounfall um's leben kam, gab es immer wieder Momente wie diesen, in denen mir einfach nach heulen zumute war.
Ich brauchte sie.
Zwar verstand ich mich sehr gut mit meinem Dad und wir kamen super miteinander aus, doch ohne sie fühlte es sich einfach nicht mehr richtig nach Zuhause an.
Ich verbarrikadierte mich mit einem Teller Nudeln mit Tomatensoße in meinem Zimmer, ließ ein bisschen Musik laufen und bemerkte erst, als die erste Träne auf dem nun leeren Teller landete, dass ich weinte.
Es war alles zu viel für mich.

Die Stunden vergingen.
Dad kam nach Hause, ließ mich aber glücklicherweise in Ruhe.
Amber schrieb mir nicht mehr. Ich hatte Angst, sie würde nun Abstand von mir nehmen. Normalerweise erkundigte sie sich immer wie es mir ging, wenn sie wusste, dass gerade etwas nicht wie am Schnürchen lief. Doch jetzt blieb es still. Mein Handy lag auf meinem Nachttisch und ich gab die Hoffnung auf eine Nachricht auf.
Stattdessen las ich ein wenig, machte Hausaufgaben und zog mich schließlich um, als es draußen bereits dunkel war. Die einzige Hoffnung die ich noch hatte, war, dass ich morgen ausschlafen konnte. Es war Freitag und ich war selten so erleichtert, nicht zur Schule zu müssen.

Ich wollte nicht schlafen. Ich hatte Angst. Große Angst.

Sheru || Wenn sich Wirklichkeit mit Traum vermischtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt