„Kann ich dich schon als Alkoholiker betiteln?", begrüßt mich Harry,als er mir die Haustür öffnet. Eine Begrüßung, die er sich hätte sparen können. Ich bin gekommen um zu Trinken und nicht um wieder schlechte Laune zu bekommen, denke ich mir, als ich Kopf schüttelnd an Harry vorbei in das Haus trete.
„Weil du dich besser verhältst?", kontere ich dabei.
Mit einem leisen Schnauben symbolisiert er mir, dass ich diese winzig kleine Auseinandersetzung wohl gewonnen habe. Harry schließt die Haustür und geleitet mich zum Wohnzimmer, während mir auffällt,wie still es hier ist. Seine Eltern scheinen wohl nicht zu Hause zusein.
Ich pflanze mich auf die Couch und warte, bis Harry den Alkohol auf den Tisch vor mir gestellt hat. Dabei handelt es sich um eine ungeöffnete Flasche Jim Beam, dazu eine Flasche Coca Cola. „Die muss doch für uns beide reichen, oder?", fragt Harry nach.
Ein wenig verblüfft blicke ich zuerst auf die randvolle Flasche und dann auf Harry. „Nur wir beide?"
Schulterzuckend setzt er sich neben mich und öffnet den Alkohol. „Ich versuche mich damit bei dir für mein Verhalten zu entschuldigen, also versaue es nicht."
Ich kann mir ein belustigtes Kichern nicht unterdrücken. Harry reagiert darauf nur mit einem grimmigen Blick, ehe er den Blick wieder abwendet um uns beiden die Gläser zu füllen. Dankend nehme ich mein Getränk entgegen als er es mir hinhält und nippe sofort einige Male daran. Der Whiskey fließt brennend meine Kehle hinunter und ich muss meine Gesichtszüge stark unter Kontrolle behalten, um nicht mein Gesicht zu verziehen, denn so wie ich Harry kenne, würde er mich im Nachhinein nur damit aufziehen.
Es vergeht nicht viel Zeit, bis ich mich bereits einigermaßen beschwipst fühle. Ich kippe den Alkohol meinen Rachen hinunter als sei es Multivitaminsaft. Ich habe das Gefühl, dass dies auch Harry aufgefallen ist, jedoch macht er keine Anstalten mich darauf anzusprechen, darauf bedacht, nicht ebenso schnell zu trinken wie ich. Ich sollte es ihm gleich tun, denke ich mir. Sollte mir nicht den Verstand weg trinken, so wie den Abend zuvor. Aber ich schätze, ich bin mittlerweile sowieso viel zu betrunken.
Ein bisschen schwankend richte ich mich auf und schnappe mir meine Zigarettenschachtel, die auf dem Couchtisch vor uns liegt. „Rauchen?", frage ich dabei meinen Saufkumpanen.
Harrys Augen sind gerötet vom Alkohol, wodurch seine braunen Augen besonders hervorstechen. Ich will mich gerade zum Gehen wenden, nachdem er mir zugestimmt hat, bis mir durch den Kopf schießt, dass Harry doch gar keine braunen Augen hat...
Mit geweiteten Augen richte ich meinen Blick wieder auf Harry, beziehungsweise zu der Person, die eigentlich Harry sein sollte, doch meine Sicht ist so verschwommen, so vom Alkohol getrübt, dass die Realität verschwimmt und ich plötzlich jemand ganz anderen vorAugen habe. Wobei ich trotz der Unklarheit meiner Betrachtungsweise jedes noch so winzige Detail an ihm wieder erkenne. Die Augen, die Nase, das kleine unscheinbare Muttermal unter seinen Lippen...
Meine Gedanken prasseln über einander, ich kann keinen Faden mehr fassen, der mich leitet und führt. Ich weiß nur, dass ich die Liebe meines Lebens vor mir sehe. Lebendig.
Tief in meinem Unterbewusstsein ist da ein kleiner Hauch von Klarheit, die mir versucht zu zu flüstern, dass an dieser Stelle Harry ist, dass Travis nicht hier, bei mir, sein kann. Aber ich blende den Flüsterton gänzlich aus meinen Sinnen und kann schlichtweg nur daran denken, wie sehr ich diesen Mann vermisst habe.
Völlig überstürzt kann ich mich nicht daran hindern meine Arme um seinen Hals zu werfen. Mich an seinen erhitzten Körper zu schmiegen. Und meine Lippen auf seine zu drücken.
Bei der Berührung unserer Lippen scheinen meine Gedanken sich abermals zu überschlagen und oftmals höre ich den Fetzen „Was zur Hölle tust du da... nein... hör auf... das ist falsch!", doch es ist zuspät, als sich zwei Arme um meine Hüfte legen und mich näher an ihn drücken.
Ich merke, dass sich die Lippen fremd anfühlen. Weich und warm, ja, aber als mein stürmischer Kuss erwidert wird, sind die Bewegungen anders. Zunächst zögernd und verwirrt, doch als ich meine Hände in seine weichen Haare vergrabe und uns auf das Sofa zurück bugsiere, um auf seinen Schoß zu klettern, entlocke ich ihm ein leises Raunen und spüre, wie eine seiner Hände nach unten zu meinem Hintern gleitet.
Ungeduldig ziehe ich an seinem Oberteil, während mein Verlangen nach ihm stetig steigt.
„Travis", flüstere ich gegen seinen Lippen und will in einer flüchtigen Unterbrechung unseres Kusses sagen, wie sehr er mir gefehlt hat, jedoch versteift sich der Körper unter mir plötzlich. Hat komplett in jeglichen Bewegungen inne gehalten.
Perplex entferne wir uns nahezu gleichzeitig voneinander und sehen uns ins Gesicht. Wobei sich schließlich alles in einen schlimmen Albtraum verwandelt. Harry sieht mich mit offen stehendem Mund an, der Satz „Ich bin nicht Travis", steht ihm fast schon auf die Stirn geschrieben.
Ruckartig springe ich von ihm runter. Durch den Alkoholeinfluss kann ich kaum mein Gleichgewicht halten, sodass ich mich vertrete und rückwärts auf mein Hintern falle. Davon lasse ich mich aber nicht beirren und krabbelte rückwärts weiter nach hinten, um so viel Abstand wie möglich zu gewinnen.
Ich verliere endgültig meine Beherrschung, als mir die Tränen in die Augen schießen und im nächsten Augenblick auch schon die Wangen hinunter purzeln. Ich hätte schreien können.
„Blaze...", beginnt Harry, kommt auf mich zu und will mir sogar die Hand entgegen halten, um mir wieder auf die Beine zu helfen.
„Nein!", unterbreche ich ihn schreiend, rapple mich eilig auf und renne aus dem Wohnzimmer, in den Flur, zur Haustür und raus in die Dunkelheit. Ich höre noch, wie Harry abermals meinen Namen ruft. In der Hoffnung, ich würde reagieren und nicht völlig betrunken und aufgelöst in der Nacht wegrennen.
Jedoch renne ich weiter, wobei ich nicht einmal die Umgebung um mich herum aufgrund meiner Tränen und der eigentlich so oder so schon unklaren Sicht erkenne. Das einzige woran ich aber zurzeit denken kann ist; Hauptsache weg. Weg von Harry. Weg von dem Tatort. Weg, weg, weg. Amliebsten auch weg von mir. Weg von den Schmerzen. Weg von meinem blutendem Herzen. Weg von der Illusion eines lebenden Travis'.
Ich will einfach nur weg. Ich ertrage das alles nicht mehr.
Bei meinem nicht vorhandenen Glück stolpere ich über meine eigenen Füße und pralle hart auf den Asphalt. Ich spüre wie der Stein das Fleisch an meinen Handinnenflächen und Knien auf ratscht, als meine Reflexe versuchen mich vorm Sturz zu schützen. Es schmerzt sehr, wobei es nur so kleine Wunden sind.
Ich sehe um mich herum, um Orientierung zu gewinnen, doch die Nacht ist zu dunkel und meine Augen zu betrübt, als dass ich irgendetwas wirklich erkennen kann. Auch verlassen mich meine Kräfte. Mache keine Anstalten mich wieder aufzurappeln, sondern gebe nach. Lege meinen Kopf auf den Boden und schließe meine Augen. Versuche kläglich für einen Moment nichts zu fühlen. Weder Trauer noch Schmerz. Sondern einfach Nichts.
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nuttenrot
Teen FictionEs ist tragisch, wenn uns die scheinbar wichtigste Person in unserem Leben plötzlich aus den Fingern entrissen wird. Noch tragischer ist es, wenn man diesen Verlust, diesen Schicksalsschlag auf eine Art und Weise verarbeitet, bei der wir drohen unse...