Kapitel 33

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Kapitel 33 : 




Die Zeit schien still zu stehen, während ich weinte. Ich wunderte mich woher ich all die Tränen hatte und ob sie mir nicht irgendwann mal ausgehen würden. 
„Hajde boll ma, a po doni me myt qiken a? (Kommt es reicht, wollt ihr das Mädchen umbringen oder was?“, hörte ich plötzlich eine meiner Tanten sagen. 
Ja bitte! Sie sollten aufhören, einfach nur aufhören! Ich konnte nicht mehr .. 
„Bjere kanen. (Bring das Henna.)“, verlangte meine Cousine. 
Traditionen .. Mama hatte sich mal wieder durchgesetzt. Sie wollte, dass alles so wie früher abläuft. Besjana nahm meine Hände, tunkte die Fingerspitzen in Henna und ich hinterließ meine Abrücke auf ein Stück Pappe .. sofort fingen die Mädchen wieder an zu singen. 
„Ngjitet kana ma e fort se guri, sonte je te nana, neser je te burri. (Trägt sich der Henna fester auf als Stein, heute bist du bei deiner Mama, Morgen bist du bei deinem Mann.)“
Ich schluchzte laut auf und legte meinen Kopf auf den Schoß. Wahrscheinlich können sich nur meine Landsfrauen gerade in meine Situation hineinversetzten und verstehen was gerade in mir vor ging. Mir blieb die Luft weg und in meinem Hals bildete sich ein Kloß. 
„Genug jetzt, bringt sie in ihr Zimmer.“
Ich spürte wie jemand nach meinen Armen griff, aber ich war nicht in der Lage aufzustehen. Stattdessen ließ ich meinen müden Körper nach hinten kippen und schnappte schluchzend nach Luft. 
„Adelin!“
Besjana rüttelte besorgt an meinen Arm und hob das Tuch an. Kurz darauf spürte ich, wie mir ein Glas Wasser an die Lippen gehalten wurde. Die ganze Zeit über hielt ich meine Augen geschlossen. Viele würden jetzt sagen: „Ach komm, wie sie übertreibt. Niemand zwingt sie zu heiraten.“
Das aber waren die Unwissenden. Vorwürfe machte ich ihnen nicht, denn als Aussenstehende würde ich wahrscheinlich das selbe denken. Woher sollten sie denn wissen, dass ich Armend hasste? Woher sollten sie denn wissen, dass ich mit Leo, die Liebe meines Lebens verloren hatte? Und woher sollten sie wissen, dass ich all jenes nur für Mama tat? Für meine geliebte Mama, die Todkrank war und uns bald verlassen würde. Als ich meine Augen öffnete sah ich viele Blicke die mich musterten. Manche weinten mit, andere schüttelten traurig ihren Kopf. Dann endlich fanden meine Augen Mama. Sie saß neben meiner Tante und weinte. Mehrere Frauen standen um sie herum, sprachen auf sie ein und versuchten sie zu beruhigen. Aber ohne Erfolg. Aida saß zu ihren Füßen und hielt ihre Hand. 
„Komm Adelina boll ma (es reicht).“, flüsterte mir Besjana ins Ohr. 
Schwankend stand ich auf und schaffte es nur mit Hilfe meiner beiden Cousinen, mich auf den Beinen zu halten. Langsam verließen wir das Wohnzimmer aber stoppten kurz im Flur, denn Mama war uns gefolgt. Sie nahm meine zitternden Hände und küsste sie. Sofort fiel ich ihr weinend um den Hals und umarmte sie fest. 
„Mam .. Mam ..“, schluchzte ich immer wieder. 
„Adelina es reicht!“, mischte Besjana sich ein und trennte mich von Mama. 
Sie meinte es nur gut, denn ich sah wie ihr hübsches Gesicht auch schon Tränenverschmiert war. 
„Shko pusho pak qika jem. (Geh ruh dich ein bisschen aus meine Tochter.)“, sagte Mama weinend. 
Mit Beinen die sich wie Wackelpudding anfühlten, stieg ich letztendlich die Treppen rauf. In meinem Zimmer angekommen half mir Besjana aus dem Schlafmantel. 
„Hör bitte auf zu weinen Adelin.“, flehte sie und reichte mir ein frisches Taschentuch. 
„Po shkon te burri, e jo me dek. (Du gehst zu deinem Mann, nicht sterben.)“, fügte sie hinzu. 
Sie versuchte mich zu beruhigen, aber ich weinte nach ihren Worten nur noch mehr. Sogar Sterben wäre jetzt besser .. Es klopfte. Aida kam rein, gefolgt von Dilara. Beide hatten gerötete Augen. Lule war nicht gekommen. Nach unserem Streit vor ein paar Tagen war das nicht anders zu erwarten, aber trotz allem war ich sehr enttäuscht, dass sie unsere Jahrelange Freundschaft einfach so weg warf. Vor allem gingen mir ihre Worte über Leo nicht mehr aus dem Kopf. 
'Mal schauen, vielleicht schnappe ich ihn mir.', hatte sie gesagt. 
Würde er wirklich etwas mit ihr anfangen? Alle möglichen Szenarien spielten sich in meinen Kopf ab. Selbst wenn es so wäre, das hatte mich nichts anzugehen. Schließlich war ich diejenige, die es beendet hat und Morgen einen anderen Heiraten wird. 
„Willst du duschen?“, fragte Besjana. 
Wortlos schüttelte ich den Kopf. Mehrmals nahm ich tief Luft und versuchte die verdammten Tränen endlich unter Kontrolle zu kriegen. 
„Sie duscht Morgen früh, bevor wir zum Friseur fahren.“, sprach Aida für mich. 
Besjana nickte und drückte mir dann einen Kuss auf die Wange. 
„Versuch ein bisschen zu schlafen okay?“, sagte sie und verließ anschließend das Zimmer. 
Ich setzte mich, Aida und Dilara nahmen rechts und links von mir Platz. Die beiden nahmen meine Hände und saßen mehrere Minuten lang einfach still neben mir, während ich mich so langsam aber sicher beruhigte. Manchmal braucht man einfach keine aufmunternden Worte. Es reicht, wenn bestimmte Leute bei dir sind und deine Hand halten. 
„Du solltest dich jetzt ein wenig hinlegen.“, sagte Aida schließlich. 
Dilara nickte zustimmend und stand dann auf. 
„Ich geh jetzt nach Hause canim, bin aber Morgen ganz früh wieder da okay?“, sagte sie. 
„Okay ..“, gab ich leise zurück. 
„Adelin...“
Aida saß noch immer neben mir und hielt meine Hand. 
„Wenn du was brauchst, dann ruf mich okay?“, sagte sie zitternd. 
Ihre Augen waren gefüllt und sie sah mich traurig an.. kurz darauf war ich allein .. 



2:02 Uhr. Ich starrte auf die Decke, während mir immer wieder Tränen die Schläfen entlang liefen. Es war schon lange ziemlich still im Haus. Ausser meinem Onkel und seiner Frau, die bei uns schliefen, waren alle nach Hause gegangen. Ich lag seit gut zwei Stunden in meinem Bett und bekam kein Auge zu. Zu groß war der Schmerz.... Vorsichtig stand ich auf und öffnete meine Zimmertür, nachdem ich mir einen Pulli und eine Jeans übergestreift hatte. Dann tapste ich leise die Treppen runter. Als ich im Flur stand hielt ich erst mal für ein paar Sekunden inne. Nicht einmal zu atmen traute ich mich! Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass auch wirklich alle schliefen, nahm ich Egzons Autoschlüssel vom Schuhschrank, stieg in meine Stiefel und griff nach meinen Mantel. Leise .. ganz leise verließ ich das Haus. Ein Glück, dass Onkels Wagen in der Garage stand und Egzon seines ein paar Meter vom Haus entfernt. Mit schnellen Schritten ging ich zum Wagen. Meine Finger zitterten verräterisch als ich die Tür aufschloss. Ich stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los .. 


Schnee lag für Ende Januar überraschend wenig, aber trotz allem war es eisig kalt. Ich parkte den Wagen und lief zur Bank. Der Max Eyth erstreckte sich vor mir. Unser Ort. Leo seiner und meiner. Unser Zufluchtsort. Mit diesem Ort verband ich so wunderschöne Erinnerungen. Hier konnte ich jedes mal aus der Realität entfliehen und in meiner eigenen Traumwelt leben. Eine Traumwelt, aus der ich viel zu schnell und zu unsanft gerissen wurde. Ich vergrub das Gesicht in meine eiskalten Hände und begann vom neuen zu weinen. Wieso tut es so weh? Wieso gibt es keine Medizin für diese Art von Schmerzen? Wieso muss man alles in sich hineinfressen und mitansehen wie alles kaputt geht? Ich weiss nicht genau wie lange ich so in der Kälte saß. Es gab nur mich und meine Schmerzen, die mich Stück für Stück ausseinander nahmen. In knapp 24 Stunden würde ich die Frau von Armend sein. Ich würde ihm endgültig gehören.. Irgendwann stand ich auf und setzte mich in den Wagen. 
„Wieso? Wieso? Wieso?“, schrie ich weinend und schlug auf das Lenkrad. 
Erneut startete ich den Motor und fuhr los. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren, als ich mich plötzlich vor der Brücke befand. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ich stieg aus und ging ein paar Schritte. Als ich mich dem Brückengeländer näherte, klopfte mein Herz wie wild. 
'Lieber spring ich von der Brücke, als deine Frau zu werden!'
Immer wieder dachte ich an diesen Satz, den ich vor ein paar Monaten gesagt hatte. Dass es wirklich soweit kommen würde, hätte ich niemals gedacht. Jetzt stand ich hier und warf einen kurzen Blick nach unten. 40 Meter? 50 Meter bis zum Wasser? Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Werde ich auf der Stelle tot sein? Wird es weh tun? Nichts konnte mir mehr Schmerzen bereiten, als dieses sinnlose Leben. Konnte man das überhaupt Leben nennen? Mit einem Menschen zusammen zu leben den man hasst, den man verabscheut. Den man, möge Allah mir verzeihen, den Tod wünscht! Diese Höllenqualen waren nicht auszuhalten, jeden Tag starb ich ein Stückchen mehr. Jeden Tag wurde die Luft knapper für mich. Seit Tagen ging mir dieser eine Gedanke nicht aus dem Kopf. Es sollte ein Ende haben, es soll einfach zu Ende gehen! Diese Schmerzen sollen weg sein! Für immer! Ich wollte nicht mehr .. nein, ich konnte nicht mehr... 
Ich stieg über das Geländer und hielt mich fest. Dann schloss ich meine Augen und ließ die letzten Monate noch einmal Revue passieren. Ein einfaches, sorgloses Mädchen war ich gewesen. So viel war geschehen. So viel schlechtes, so viel schockierendes. Mein Leben hatte einen komplett anderen Verlauf genommen, als wie ich es erwartet hatte. Ich wollte aus diesem Schmerz herausgeholt werden, ihn nicht mehr spüren müssen. Es gab nur einen einzigen Ausweg .. Ich spürte den kalten Wind auf meinem Gesicht. Mein Puls verlangsamte sich und mein Griff um das Geländer wurde schwächer ..

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