5. Der Schlüssel der Wahrheit

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„Sherlock Holmes fordert Menschlichkeit. Dass ich dieses Phänomen noch einmal erleben darf“, ertönte im nächsten Moment ihnen eine mehr als vertraute Stimme.
Während John erleichtert ausatmete, entfuhr Sherlocks Lippen ein undefinierbares Geräusch. Er kannte keine Geschwisterliebe, zumindest würde diese nie seine Lippen verlassen.
„Mycroft?“, fragte er schließlich skeptisch nach, während er noch immer im Türrahmen stand und bis vor wenigen Sekunden auf das schlimmste gefasst gewesen war.

Er hätte alles dafür getan, um John und Rosie zu beschützen und hätte mit allem gerechnet. Selbst Moriartys unerwartete Rückkehr von den Toten hätte ihn weniger überrascht, als seinen Bruder mit drei weiteren Männern in Johns Haus ausfindig zu machen.
Noch immer wusste er nicht, was er davon halten sollte.
Bevor irgendwer etwas sagen konnte, bedeutete Mycroft den drei anderen das Feld zu räumen, da sein Bruder außer Gefahr war und es hier zu keinen Unschönheiten kommen würde.

„Sherlock, nun guck nicht so enttäuscht, nur weil du vor John dieses Mal nicht den Helden spielen konntest. Ich befürchte, dass du das noch früh genug unter Beweis stellen musst“, fuhr Mycroft schließlich fort und sah an Sherlock vorbei zu John, der mit nachdenklicher Miene das Gespräch, oder wenn man es genau nahm, den Monolog verfolgte.

„Ich verstehe nicht“, murmelte Sherlock mehr zu sich selbst, als zu jemanden bestimmten. Angestrengt dachte er nach. Mycroft hatte zeitgleich oder zuvor die Nachricht bekommen müssen, andererseits würde er es nicht in so kurzer Zeit geschafft haben, hier her zu gelangen.
Es betraf also weitaus mehr Menschen, als John, Rosie und ihn selbst. Die Sache wurde von Mal zu Mal interessanter. Doch wessen Motiv verfolgte die Frau, die sich als eine Nanny ausgab?
Offenkundig wusste Inspektor Lestrade noch nichts davon. Es musste also eine Verbindung geben. Eine Verbindung zwischen John, Mycroft und ihm. Jemand der ihre Aufmerksamkeit gewinnen wollte. Sherlock ärgerte sich, dass sein Bruder offenbar mehr Wissen besaß als er selbst.

„Ich denke, wir sollten diese Angelegenheit in Ruhe klären“, sprach Mycroft weiter und warf John einen vielsagenden Blick zu. Dieser wurde mit einem Mal ganz klein und wirkte etwas verlegen, da er die stumme Aufforderung begriffen hatte.
„Erstens wirst du John nicht aus seinem eigenen Haus werfen können. Und zweitens geht ihn jede meiner Angelegenheit auch etwas an!“, ging Sherlock dazwischen, bevor John reagieren konnte.

Sherlocks Geduld hielt sich wie gewöhnlich in Grenzen. Er wollte schnell auf den Wissensstand seines Bruders gebracht werden, um durch seinen Gedankenanstoß über die Kenntnisse hinauszuwachsen und anschließend die Angelegenheit klären zu können.
„Nun, es handelt sich um familiäre Angelegenheiten und da würde ich…“, Mycroft räusperte sich und sah erneut zu John, um dessen Nacken sich noch immer Rosies zarte Ärmchen geschlungen hatten. Sie hatte aufgehört zu weinen, da sie spürte, dass ihr Vater alles im Griff hatte, doch wirkte sie noch immer völlig erschöpft und überfordert mit dieser ganzen Situation.

„John ist meine Familie!“, rief Sherlock auf einmal barsch. Der Genannte hob seinen Blick und schwenkte ihn zu den beiden Brüdern, die einander noch immer gegenüber standen und sich finster ansahen. Der Satz drang erst verzögert zu John durch.
Ein Gefühl breitete sich in ihm aus und ließ sein Herz ein paar Takte schneller schlagen. Doch hatte er keine Zeit länger darüber nachzudenken, da die Stille abermals gebrochen wurde.

„Wie du meinst“, seufzte Mycroft. „Können wir uns wenigstens nach unten setzen? Wir sollten das hier wirklich nicht zwischen Tür und Angel besprechen!“
„Ähm“, murmelte John leise, als er bemerkte, dass die Frage an ihn gerichtet war. „Klar!“
Behutsam legte er Rosie zurück in das Gitterbett und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Während John sie zudeckte und ihr noch einmal über die Haare strich, sprach er ein leises Versprechen aus: „Ich bin gleich bei dir!“
Vorerst musste er jedoch für seinen Freund da sein und mit ihm anhören, was Mycroft zu verbergen hatte.
Er war sich sicher, dass die Geheimnisse der Holmes keine harmlosen Tratschthemen waren. Und doch oder gerade deswegen, war er neugierig.
So schritt John durch das Zimmer und bedeutete den Holmes ihm die Treppe herunter zu folgen und im Wohnzimmerplatz zu nehmen.

Kurze Zeit später saßen sie beisammen und versanken für einige Zeit in ein Schweigen. Mycroft hatte Schwierigkeiten seine Gedanken zu sortieren, da sie viel zu großräumig waren, als hätte man einfach so drauf lossprechen können. Es war zu komplex und Sherlock zu unwissend, als dass Anstöße gereicht hätten, um es ihm zu erklären.
„Es war nicht geplant dich einzuweihen. Ich habe es mit allen Mitteln versucht zu vermeiden, doch sehe ich mich nun endgültig gezwungen meine Meinung darüber ändern zu müssen. Es ist zu gefährlich dich im Unwissen zu lassen. Du weißt, was für Sorgen ich mir mache!“

„Ja ja“, entgegnete Sherlock ungeduldig und sah ihn durchdringend an. „Das hatten wir doch schon oft genug“
„Wir haben…“, Mycroft atmete tief durch. So unbefangen hatte John ihn noch nie erlebt. Es schien wirklich wichtig zu sein. „Wir haben eine Schwester!“
John verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke. „Eine weibliche Version von euch?“
So sehr er auch seine Fantasie und seine Vorstellungskraft anregte, er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

„Sie hat sich in dieses Haus eingeschlichen. Und ich untertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie äußerst gefährlich werden kann“, sprach Mycroft weiter.
Noch immer konnte John die Worte nicht realisieren. Sherlocks Schwester sollte die Nanny sein, mit welcher er schon öfter ins Gespräch gekommen war? Unvorstellbar. Offensichtlich hatte sie mit Tarnung und eine Art von Kostüm gearbeitet. Eine Perücke und dunkle Kontaktlinsen, die den Holmes in ihr verschwiegen hatten. Oder es war anders und sie hatte kaum bis gar keine optischen Ähnlichkeiten mit ihren Brüdern.
Den Hang zu Dramatik teilte sie zumindest mit Sherlock. So viel stand fest.

John gab ein fassungsloses Geräusch von sich, was unkommentiert im Raum stehen blieb. Da noch immer Stille herrschte, sah er schließlich zu Sherlock herüber, um abzuschätzen, was ihm durch den Kopf ging.
Er wirkte, als würde er in den Tiefen seines Gedankenpalasts verschwunden sein und einen Gang nach dem nächsten absuchen. Schließlich hob er den Kopf und sprach mit fester Stimme: „Sie hat bei uns gelebt“

Weder John noch Mycroft wussten, ob dies eine Frage oder doch eine Aussage darstellte. Schließlich war es Mycroft, der es als eine Frage anerkannte und ihm eine Antwort darauf gab: „Ja Sherlock, die ersten Jahre ihres Lebens lebte sie bei uns. Darauf wurde sie eines Tages weggebracht, da sie schreckliche Dinge getan hat“
„Schreckliche Dinge?“, fragte John nach, während Unbehagen in ihm aufkam.
Doch wurde sein Bedürfnis, weitere Fragen zu stellen, schnell abgebremst. Es war tatsächlich eine Angelegenheit zwischen den beiden Brüdern. Er sollte besser den Mund halten und ihnen das Reden überlassen.

„Rotbart“, entfuhr es Sherlock auf einmal. Es war, als würde eine Tür von Sherlocks Gedankenpalast geöffnet worden sein, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte.
Doch waren Mycrofts Worte wie ein Schlüssel gewesen, der die Macht dazu hatte, längst vergessene Schlösser zu knacken.
Vor seinem geistigen Auge sah Sherlock den rotbraunen Hund, welcher mit ihm über die Wiesen jagte. Er selbst war noch sehr jung und hielt ein Holzschwert in seinen Händen, mit welchem her wild herumfuchtelte. Er hörte sein eigenes Lachen, ein glückliches Lachen.

„Eurus hat...“, holte Mycroft ihn zurück in die Realität und zögerte kurz. „Mit sehr jungen Jahren unser Familienhaus in Brand gesteckt. Das hat letztendlich dafür gesorgt, dass sie weggegeben wurde.
Sie ist gefährlich, Sherlock, und unglaublich intelligent. Intelligenter, als du es dir in diesem Moment ausmalen kannst.
Es scheint eine Lücke im Sicherheitssystem zu geben und das bedeutet, dass wir auf das schlimmste gefasst sein müssen. Ich nehme wirklich nur ungern die Rolle deiner Klienten ein, aber ich brauche dich jetzt. Wir müssen sie stoppen, was auch immer sie vor hat!“

Einen Moment herrschte Stille, ehe Sherlock schließlich nachfragte: „Wo wurde sie damals hingebracht?“
Mycroft sah von Sherlock zu John und wieder zurück. „Nach Sherrinford“

Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt