9. Der letzte Raum

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„Spürst du nun, wie Emotionalität dich verletzlich macht, Sherlock? Spürst du wie deine Gefühle dich lenken, dich beeinflussen und deine Sinne täuschen?“, brach Eurus auf einmal ihr Schweigen und brachte die Anwesenden zurück ins Hier und jetzt. Reflexartig machte Sherlock einen Schritt zurück und löste somit die kurze Berührung von John und ihm auf.

Ihm entging nicht, dass sein Bruder jede seiner Bewegungen mit verfolgte und dass er sein Kinn reckte, so als wolle er etwas sagen. Noch immer fiel es Mycroft schwer seinen Augen zu trauen, auf welche doch immer Verlass war.
Unzählige Tatsachen, Antworten, Fragen und Ängste drehten sich in seinem Kopf, in dem für gewöhnlich Ordnung herrschte. Bevor er sein Vorhaben des Sprechens jedoch in die Tat umsetzen konnte, kam ihm jemand anderes zuvor.

„Nun, jetzt wo wir alle wissen, dass Sherlock Holmes seinen eigenen Regeln widerspricht und sich von leeren Worten täuschen lässt, kann ich ja offenbaren, dass Molly Hoopers Leben nie in Gefahr stand … Im Gegensatz zu deinem Herz, Sherlock“
Kurz herrschte Stille, ehe Eurus sich an Mycroft und John wandte. „Oder doch eures?“

John, der das Ende dieses „Spiels“ nicht abschätzen konnte, sah einen Moment erneut in Sherlocks Augen. Normalerweise war es Sherlock, der John auf diese Weise stille Zuversicht zusprach. Dieses Mal war es jedoch genau andersherum.
Bevor einer von ihnen den Mund aufbekommen konnte, öffnete sich plötzlich auf der linken Seite des Zimmers eine weitere Tür. Die vielen Zimmer und Aufgaben erschienen Sherlock, John und Mycroft endlos vorzukommen und doch schwebte die Gewissheit zwischen ihnen, dass das alles hier ein Ende finden würde. Ein Ende, welches nichts Gutes versprach.

Mit einem leichten Nicken setzte sich Sherlock in Bewegung. Obgleich er den vielsagenden Blick von seinem Bruder spürte, dem noch immer einiges auf der Zunge lag, ignorierte er ihn gekonnt.
Es war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt um über sein Gefühlsleben zu diskutieren. Und die Tatsache, dass Johns Einfluss selbst sein rationales Denken in Beschlag nahm, sollte daran nichts ändern.

Bewusst konzentrierte sich Sherlock auf die Fakten, die durch seine bloßen Augen zu erkennen waren. Denn diese waren ihm immer noch am liebsten.
Bis auf einem weiteren Bildschirm und der Pistole in seiner Hand befanden sich keinerlei andere Gegenstände in dem Zimmer. Obwohl Eurus’ Vorgehen nur bruchstückig zu erschließen war, war die Tatsache, dass ihm nur noch eine Waffe blieb, ein deutlicher Hinweis. Sherlock atmete durch, auf das schlimmste gefasst.

„Dein großer Auftritt ist gekommen, Sherlock“, fing Eurus an seine Vermutungen zu bestätigen. „Da stehst du also vor deinem Bruder und deinem Freund. Wem der beiden gewährst du das Überleben? Für wen bedeutet dieser Zug sein Ende? Du entscheidest!“
John stockte einen Moment der Atem. „Das ist doch völlig krank“, murmelte er fassungslos und sah von Mycroft zu Sherlock und wieder zurück.

Dutzende Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Erinnerungen aus der fernen Vergangenheit und Vorstellungen für die nahe Zukunft. Es war zu viel. Eindeutig zu viel. Es konnte doch nicht sein, dass es so zu Ende gehen sollte. Nach allem was passiert war. John atmete durch und kam sich mit einem Mal wie ein Kind vor. Ein Kind zwischen drei Erwachsenen. Ein Kind zwischen drei Wissenden.

„Tja“, durchbrach auf einmal Mycrofts Stimme die Stille. „Da gibt es doch nicht viel zu diskutieren. Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich mit dem Wissensstand gelebt, dass du keinem Menschen das Herz erwärmen könntest. Nun beweist du mir das Gegenteil.
Aber du weißt genauso gut wie ich, dass er dir nicht reichen wird, dass er nur ein Goldfisch im Meer von dutzenden anderen ist. Also tue uns den Gefallen und erlöse deinen Freund von dem quälenden Warten!“

John öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Es brauchte einige Sekunden, ehe er es schaffte zu antworten: „Darf ich dazu auch etwas sagen?“
Ohne auf John einzugehen, fügte Mycroft ernst hinzu: „Beende es. Bringe es hinter dich, damit wir weiter kommen!“
„Hör auf“, entgegnete Sherlock bestimmt und hob seinen Kopf, um seinen Bruder einen durchdringenden Blick zuzuwerfen.

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann fügte Sherlock an John gewandt hinzu: „Ignoriere, was er gesagt hat. Er wollte bloß nett sein. Und es mir leichter machen ihn zu töten, was es jetzt nur noch schwieriger machen wird“ Langsam hob er die Waffe und wandte sie in Mycrofts Richtung.
„Holmes tötet Holmes“, hörte man aus dem Bildschirm Moriartys Stimme rufen, welche in ihren Ohren nachklang.
Anspannung, Angst, Überforderung und ein Hauch von Trauer suchte die drei Männer auf, die sich plötzlich wie auf einem Schlachtfeld gegenüber standen.

Sherlock wusste, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab. Ein einziger Ausweg. Und so tat er das, was er tun musste. Bevor sein Finger auf den Abzug der Pistole drücken konnte, stoppte er in seiner Bewegung. „Nicht mit mir!“
Gerade als Mycroft Anstalten machte, etwas sagen zu wollen, hielt er die Pistole unter sein Kinn, bereit jeder Zeit abzudrücken. „Zehn, neun, acht“
Völlig panisch wollte John etwas tun oder sagen, doch blieb er nur wie erstarrt stehen und starrte auf seinen Freund, der bereit war sein Leben für sie zu geben.

„Sieben, sechs, fünf“ Sherlock sah von seinem Bruder zu dem ersten Menschen, der es von Beginn an in sein Herz geschafft hatte, ehe er die Augen schloss und durchatmete.
„Halt, hör auf!“, kreischte plötzlich eine Stimme. Eurus hatte sich ruckartig von ihrem Stuhl erhoben und sah mit geweiteten Augen auf das Geschehen. „Das darfst du nicht! Du weißt doch noch gar nicht, was mit Rotbart geschehen ist. Du willst es wissen. Du willst doch immer alles wissen!“

„Vier, drei, zwei, …“, bevor Sherlock abdrücken konnte, spürte er urplötzlich einen Stich an seinem Hinterkopf, so als hätte sich soeben eine Nadel in seine Haut gebohrt.
Reflexartig wirbelte er herum, sah nur noch Johns erschrockenen Gesichtsausdruck und verlor den Boden unter den Füßen. Er spürte etwas unangenehm hartes unter sich, ehe sich Dunkelheit wie dunkler Nebel ausbreitete, der jede Ecke seines Kopfes einnahm. Stille. Keine Stimmen, keine Schritte, nichts.

Oder doch? Erst leise und dann lauter vernahm er ein Geräusch. Ein Geräusch, welches sich irgendwann zu Worte entwickelte.
„Du magst also immer noch das Dramatische!“
„Bin ich tot?“, verließen die Worte Sherlocks aufeinanderliegende Lippen, welche sich gleichermaßen taub anfühlten wie der Rest seines Körpers. „Nein“, folgte kurz darauf eine Antwort. „Aber ich bin es!“

Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt