11. Ostwind

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„John", schoss es Sherlock durch den Kopf, als er erschrocken zusammenzuckte und die Augen aufschlug. Noch bevor er sich zum Aufstehen bewegen konnte, registrierte er den kleinen Raum, in dem er sich befand.
Er hatte eine ungewöhnlich tiefe Decke und wirkte auf eine Weise kalt und verwahrlost. Nur die Bilder, die wie es bei einer Collage der Fall gewesen wäre, verteilt an den vier Wänden hingen, verliehen diesem Raum etwas Heimisches.

Während Sherlock seine Kindheitsfotos musterte und verschiedene Gedanken in ihm aufkamen, welche er entweder wegstieß oder annahm, klingelte auf einmal sein Handy.
Sofort zog er es hervor und meldete sich mit einer rauen und vermutlich für lange Zeit geschwiegenen Stimme: „John"

„Sherlock, ein Glück, dass ich dich erreiche", meldete sich sein Freund gleich darauf zu Wort, welcher deutlich mit den Zähnen klapperte.
„Ich muss dir etwas sagen ... Etwas, dass ich schon vor einiger Zeit hätte sagen sollen", brach es aus dem Detektiv unkontrolliert heraus. Er war nicht weniger überrascht über sein Verhalten, als es John sein musste. Verwirrt fuhr er sich durch die Haare, während er von den Bildern zu der Erhöhung schaute, auf welcher er einige Zeit gelegen haben musste.

„Jeder Zeit, Sherlock, aber jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür", unterbrach John seine Gedanken.
„Richtig!", stimmte Sherlock ihm schnell zu, froh darüber, dass John ihm den Faden zurück in die Hand gedrückt hatte.
Er befand sich in einem kleinen Raum, welcher weder Türen noch Fenster besaß und nur mit alten Fotos geziert war. Viele davon hatte er noch nie zuvor gesehen.

Obwohl er seine Kindheit nicht als etwas Negatives empfand, wurde dieser Part seines Lebens von seiner Familie oftmals totgeschwiegen, was in Hinsicht auf Eurus zumindest zum Teil erklärbar wurde. Doch viel wichtiger war nun John. Er befand sich irgendwo in der Kälte und brauchte dringend seine Hilfe.
„Wo bist du?"

„Ich weiß nicht genau", murmelte John unschlüssig „Es ist kalt", bestätigte er gleich darauf Sherlocks Verdacht.
Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich stehe im Wasser, bis zu den Knien. Und die Wände sehen aus wie ... Wie Backsteine!"

„Noch etwas?", forschte Sherlock nach, während er mit seinen Fingern die Wände entlang fuhr. Wenn er ohne Türen und Fenster hereingekommen war, würde er auch ohne sie herausfinden.
„Über mir ist der Himmel ... Sterne, ungewöhnlich viele", redete John weiter. „Es ist bereits nachts!"

„Gute Deduktion, aber typischerweise etwas zu ausgeschmückt", murmelte Sherlock abgelenkt von seinen eigenen Untersuchungen, konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Im nächsten Moment wurde er allerdings wieder ernst und hielt inne.
Sein Finger war auf etwas gestoßen, dass sich deutlich von dem Rest der Wand unterschied. Es wirkte wie ein kleiner Spalt, durch welchen kühle Luft drang.

Sherlock trat drei Schritte zurück, nahm Anlauf und stieß sich gegen die Wand. Zu seinem Bedauern hatte er bei diesem Vorhaben seinen Ellenbogen nicht berücksichtigt, der durch die Vitrine noch immer empfindlich war. Er zischte leise zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, ehe er seinen Kopf hob.

„Alles okay?", fragte John alarmiert, der den darauffolgenden Knall vernahm. Die Wände fielen geräuschvoll zu Boden und offenbarten ein großes Haus. Es sah heruntergekommen und kaputt aus und doch weckte es in Sherlock etwas, das sich die ganze Zeit über versteckt gehalten hatte.

„Es ist hier", hauchte er leise zu sich selbst, ohne John zu beachten, welcher es als eine Antwort auf seine Frage eingeordnet hatte und nicht mir ihr zufrieden gestellt wurde. Einen weiteren Schritt über die Grasfläche gehend murmelte Sherlock kaum hörbar: „Ich bin Zuhause!"

Vor einiger Zeit war hier ein Junge über die Wiese gerannt. Eine Wiese, die aus seinen Augen nicht als solche wahrgenommen wurde. Sie war ein riesiges Schiff gewesen, ein Schiff, welches auf dem offenen Meer auf den Wellen getanzt hatte.
In seiner rechten Hand hatte der Junge fest umschlossen ein Schwert bei sich getragen, welches ihm im Kampf behilflich sein sollte.

„Rotbart", hatte er dem Hund zugerufen, der zu dem Deck herübergelaufen kam, um das Meer in seiner ganzen Pracht erkennen zu können. Sowohl Tier als auch Mensch schienen voller Glück zu sein. Sie hatten die Abenteuer immer geliebt, Schiffsfahrten, die Kämpfe und die Siege.

Doch eines Tages, als sie wieder einmal von einer Eroberung nach Hause gekommen waren und der Junge das Steuerrad zur Hand genommen hatte, um sie beide sicher zurück auf das Festland zu bringen, war ein Sturm aufgezogen.
Beide waren darauf nicht vorbereitet gewesen. Der Ostwind hatte sich noch nie angekündigt. Er hatte seine eigenen Vorstellungen und Regeln. Voller Furcht hatte der Junge im Stillen die Route nach Hause verfolgt und war immer weiter bis zum Festland durchgedrungen.

Mit der Zeit war der Sturm immer tobender geworden und hatte den Freunden keine Gnade gezeigt. Das riesige Schiff hatte wie wild geschaukelt, als hätte es sie abwerfen wollen.
Gerade als der Junge geglaubt hatte endlich am Ufer anlegen zu können, hatte der Ostwind die Wellen höher steigen lassen, so hoch, dass das Schiff gedroht hatte zu kentern.
Dem verängstigten Kind war nichts anderes übrig geblieben, als sich an dem Mast festzuhalten, in der Hoffnung Halt zu finden.

„Rotbart! Rotbart", hatte er immer und immer wieder gerufen, während Tränen seine Wangen heruntergelaufen waren. Er hatte so furchtbar Angst gehabt, nicht vor dem Untergehen oder dem Sturm. Nein, die Angst hatte alleine seinem Freund gegolten, der mit ihm auf dieses Abenteuer gekommen war.

Schließlich hatte es der Sturm so weit gebracht, dass das Schiff einen Schlenker zur Seite gemacht hatte. Der Hund hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft.
Erbarmungslos hatte ihn der Ostwind ins Meer gestoßen, in welchem er kurz darauf verschwunden und nie wieder aufgetaucht war.
Der Junge hatte geschrien und geschrien. Es hatte lange gebraucht, bis sein Flehen irgendwann verstummt war. Doch das man aufgehört hatte ihn schreien zu hören, hieß nicht, dass er es nicht immer noch tat.

Da stand Sherlock also. Eingehüllt in seinem Mantel als ein erwachsender Pirat, der seinen Freund im Sturm verloren hatte. Und als er zu der Stelle sah, an welcher das Meer dieses arme Tier verschluckt hatte, sah er auf einmal ein Kind. Ein kleiner Junge, der von der Naturgewalt in die tiefen Abgründe gezogen wurde.

„Rotbart", hauchte Sherlock unter Tränen, ehe sein alter bester Freund unter der Wasseroberfläche verschwand. Der Ostwind streifte Sherlocks kalte Haut und überließ dem Kind seinem eigenen Schicksal. Er würde wohl nie aufhören zu toben und zu heulen, sowie Sherlock nie aufhören würde alles zu tun, um seinen Freund vor dem Untergehen zu schützen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 05, 2020 ⏰

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Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt