6. Selbsthass und Manipulation

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Es war schon spät, als Sherlock, John und Mycroft schließlich die Baker Street erreichten.
Obgleich Sherlock John unzählige Male gesagt hatte, dass er nicht mitkommen bräuchte und er sich scheinbar noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen konnte, dass John tat, als wäre es wie immer zwischen ihnen, hatte sich der Militärarzt schon längst für das Gegenteil entschieden.
Die einzige Bedingung, die er stellte, war es, Rosie zu Mrs Hudson zu bringen, sollte sie diese Aufgabe übernehmen wollen.

Mycroft hingegen schien von Mal zu Mal ungeduldiger zu werden. Da er keine Zeit verlieren wollte, bestand er darauf vor dem Haus zu warten, bis John und Sherlock wiederkamen.
Vermutlich hatte er die Hoffnung, dass das die beiden oder zumindest John ein Stück weit beschleunigte.
So traten John und Sherlock dicht an dicht in ihr früheres gemeinsames Haus und liefen an der Treppe vorbei zu Mrs Hudsons Tür. Es war Sherlock, der sich schließlich dazu aufbrachte, anzuklopfen.

„Sherlock", hörten sie kurz darauf eine hohe Stimme fragen. „Sind Sie es?"
„Ja", stimmte er schnell zu und sah zu John herüber. „Wir wollten Sie fragen, ob Sie uns vielleicht die Ehre erweisen könnten und auf die kleine Rosie aufpassen würden, während wir uns um eine wichtige Angelegenheit kümmern müssen"
Im nächsten Moment wurde die Tür von einer älteren Dame geöffnet. Obwohl ihr Gesicht von Falten geziert war und man ihr die vielen Jahre, die sie auf dieser Welt schon verbracht hatte, ansah, wirkten ihre Augen noch jung und lebendig.

„John!", rief sie im nächsten Moment erfreut. „Wie lange ist es her!"
Sie sah zwischen John und Sherlock hin und her, während sich ein vielsagendes Schmunzeln auf ihre Lippen schlich.
Es war schwer zu deuten, doch offenbar war sie mehr als erfreut, dass die zwei wieder Kontakt hatten und keinen Groll mehr gegen den anderen hegten.
John lächelte etwas verlegen und nahm Rosie auf seinen anderen Arm, ehe er schließlich meinte: „Ich freue mich auch!"
„Schön, dass wir uns alle freuen, aber wir sollten uns nun wirklich beeilen", funkte Sherlock dazwischen und sah Mrs Hudson auffordernd an.

„Na komm meine Süße" Sie nahm Rosie entgegen, die mit Schnuller im Mund ihren Vater nachsah. Dennoch wirkte sie nicht dagegen abgeneigt hier in der Baker Street zu verweilen.
„Vielen Dank. Wenn etwas sein sollte, ist Molly der beste Gesprächspartner. Sie kennt sie mittlerweile ziemlich gut", sagte John noch und warf seiner Tochter einen letzten liebevollen Blick zu.

Mrs Hudson nickte, rückte das Kind auf ihrem Arm zurecht und verabschiedete sich anschließend, indem sie mit Rosies Hand winkte.
Dann fiel die Tür ins Schloss und die zwei Männer waren völlig unvorbereitet einer einsamen Stille ausgeliefert. Einige Zeit standen sie wie versteinert im Treppenhaus. Dann machte Sherlock auf einmal den Mund auf: „Ein letztes Mal noch: Du musst das nicht für mich tun ... Nicht nachdem, was ich dir alles angetan habe!"

„Hör auf damit!", sagte John etwas lauter als beabsichtigt.
„Womit?"
„Dich für etwas zu hassen, das du nicht gewollt hast!"
Darauf herrschte eine kurze Stille. John atmete tief durch und sah Sherlock das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig in die Augen. Seine Hand wanderte wie selbstverständlich zu Sherlocks, welche schlaff nehmen seinem Körper hing und magerer wirkte als gewöhnlich.
Er umschloss sie vorsichtig, gerade so stark, dass Sherlock es als eine Berührung identifizieren würde.

„Hör bitte auf dich kaputtzumachen, Sherlock! Ich würde lügen, würde ich sagen, dass ich nicht wütend bin, okay? Aber ich kann nicht mehr dabei zu sehen, wie du dich die ganze Zeit fertig machst!"
Sherlock setzte an etwas zu sagen, behielt seinen Gedanken allerdings dann doch für sich.
Bevor einer der beiden der Sprache wieder mächtig war, wurde auf einmal die Tür zum Treppenhaus aufgerissen.

„Ich störe ja ungern euren Kaffeeklatsch, aber die Wahrscheinlichkeit, das Menschenleben auf dem Spiel stehen könnten, sollte die Sache etwas verständlicher machen!", rief Mycroft und trat ein paar Schritte in das Treppenhaus.
Kurz verharrten seine Augen auf Johns Hand, die noch immer Sherlocks umschlossen hielt. Dann nickte er Richtung Ausgang, als Zeichen, dass die zwei ihm folgen sollten.

Ein lauter Sturm heulte um das riesige Gebäude, welches sich inmitten des offenes Meeres auf einer Insel befand. Der Ort wirkte düster und gefährlich und verlieh einen sofort das Gefühl, dass man ihm mit keinem anderen auf dieser Welt vergleichen konnte. Ein Gefängnis hingegen kam einen glatt gemütlich vor.
Dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, war auf den ersten Blick zu erkennen. Doch das Ausmaß würde man erst begreifen können, wenn man einen Fuß hineingesetzt hatte.

Mit Hilfe eines Boots schafften es John, Mycroft und Sherlock die Insel zu erreichen. Ihnen war bewusst, dass es eine große Gefahr darstellte.
Vor allem, seitdem ihnen das Sicherheitsproblem klar geworden war. Dennoch hatten sie keine andere Wahl, als sich auf dieses Spiel einzulassen.
Gerade als sie das Ufer erreichten und der Dunkelheit ausgeliefert waren, kamen Schritte auf sie zu.
John konnte kaum reagieren, als er auch schon am Arm gegriffen wurde.
„Haltet sie fest und bringt sie auf der Stelle rein!"

Das einzige, was er mitbekam, war, dass er Sherlock aus den Augen verlor. Er wurde augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt und verschwand aus seinem Sichtfeld.
Während er sich vorgenommen hatte mit Eurus in Kontakt zu treten, wollten Mycroft, welcher als Schiffskapitän getarnt worden war und somit nicht mehr als Bruder von Eurus anerkannt werden konnte, und John sich nach dem Sicherheitsproblem erkundigen.

John stellte fest, dass das Gebäude von innen seinen Vorstellungen nur zum Teil gerecht wurde. Es war mit allerlei Technik ausgestattet und war von einem grellen Licht durchflutet.
Die Wände waren weiß, ebenso der Boden.
In ihm kam ein ungutes Gefühl auf, während er von einem Mann den Gang hinuntergeschoben wurde. Mit einem flüchtigen Blick in Mycrofts Richtung, stellte er fest, dass auch er sich unbehaglich fühlte.

Sie konnten nur hoffen, dass es Sherlock geschafft hatte, an den Wachen vorbei zu gelangen.
Schließlich wurden sie in einen der kleinen Räume verfrachtet. Er besaß nur einen Tisch und zwei Stühle und wirkte ansonsten so ausgestorben wie der Rest dieses Ortes.
„Sherlock Holmes und Doktor Watson", sagte einer der Männer schließlich.
„Mycroft Holmes", verbesserte Mycroft ihn da auf einmal und sah vielsagend zwischen den Wachen hin und her.
„Sie haben Einzelsitzungen mit meiner Schwester vollzogen, richtig? Und das gegen meinen Willen! Sie haben die Sicherheit von Sherrinford in Gefahr gebracht. Ist das richtig?"

Einen Moment herrschte Stille. Es dauerte nicht lange, da wiederholte Mycroft mit einer gleichermaßen lauten Stimme die Frage: „Ist das richtig?"
Einer der Wachen nickte schließlich zustimmend und warf seinen Kollegen einen flüchtigen Blick zu.
„Eurus hat die Macht Menschen zu manipulieren. Jeder, der ihr nur zu lange zu hört, wird eine Gefahr für sich selbst und für andere. Wie unvernünftig können Sie sein und gegen meine Vorschriften Sitzungen durchführen lassen?", hakte Mycroft laut nach.

„Jeder?", entfuhr es John auf einmal, während das ungute Gefühl in Angst umschlug. „Aber wenn sie jeden manipuliert, der ihr zu lange zuhört und offenbar verbotene Sitzungen durchgeführt wurden... Wer steht denn dann noch nicht unter ihren Einfluss?"
Darauf folgte Totenstille. Es waren nur wenige Sekunden, bis sich John ruckartig in Bewgung setzte und an den anderen vorbei hechtete.
Er wusste nicht, was darauf passierte, was Mycroft sagte oder tat. Er wusste nur, dass Sherlock in großer Gefahr war.

Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt