2. Schatten der Vergangenheit

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Mit schnellen Schritten lief John die Stufen von dem ihm einst vertrauten Haus herunter. Er wusste, dass es dieses Adjektiv schon lange Zeit nicht mehr verdiente, ebenso wenig wie sein Bewohner.
Zorn, das war das erste Gefühl gewesen. Das erste Gefühl, nachdem sich alles verändert hatte. Und dies richtete sich einzig und allein an den arroganten Klugscheißer, welcher für lange Zeit sein bester Freund gewesen war.

Nun war er nichts als eine dunkle Erinnerung. Eine Erinnerung, die er bemüht verdrängte.
Dennoch oder gerade deswegen konnte sich John nicht daran hindern die Baker Street wieder und wieder aufzusuchen. Den vertrauten Geruch von Tee und Vergangenheit einzuatmen und den Klängen von Sherlocks Geige zu lauschen.
Für gewöhnlich waren es unterschiedliche Musikstücke, unterschiedliche Melodien.

Doch seit ein paar Besuchen spielte Sherlock wiederholend ein neues Lied, welches John nie zuvor gehört hatte.
Es war anders als die anderen. Es besaß nicht nur Stärke und Talent. Nein, in ihm klang etwas mit, von dem alle glaubten, dass Sherlock es nicht einmal mit Hilfe von einem Streichbogen und einer Geige erzeugen konnte: Gefühl.

Gedankenverloren trat John die letzten Stufen nach unten, während er sich durch die vom Regen nassen Haare fuhr. Bevor er den Fuß der Treppe jedoch erreichen konnte, stockte er urplötzlich.
Wie vom Donner gerührt blieb er stehen und ließ seinen Blick über einen ihm mehr als vertrauten Anblick schweifen. Vor ihm saß eine Frau mit blonden, kurzen Haaren und einem warmen Lächeln. Trotz dieser Wärme strahlten ihre Augen etwas Starkes, beinahe gefährliches aus. Sie trug schlichte Kleidung und offenes Haar und wirkte doch auf eine Weise unvollkommen.

„Mary", hauchte John in das Treppenhaus hinein und ließ sich langsam vor ihr auf die Stufe sinken. Es war lange Zeit her, dass der Gedanke an Mary ihn derart verfolgt hatte, wodurch ihm diese Erscheinung abermals durch Mark und Knochen ging.
„Warum sprichst du nicht mit ihm?", fragte Mary unbeirrt nach und sah John fragend an, so als würden sie tagtäglich miteinander kommunizieren. Ein Vorwurf mischte sich in den Worten unter, so versteckt, dass John es schaffte, ihn zu überhören.

„Deinetwegen" Er fuhr sich über das Gesicht und atmete schwer aus.
„Du brauchst ihn" Marys Stimme klang so bestimmt, dass John augenblicklich zusammenfuhr.
„Warum behauptest du einen solchen Unsinn?", fragte er mit einem Anflug von Angst nach. Seine Stimme begann zu zittern und seine Augen ruhten weiterhin auf seiner verstorbenen Frau.

Irgendwann antwortete Mary schließlich auf seine Frage: „John, ich bin tot und das weißt du. Nicht ich sage, dass du ihn brauchst. Du sagst es. Jetzt in diesem Moment. Du willst ihm verziehen... Also dann tue es verdammt!"
„Ich brauche ihn nicht!", rief John laut aus und spürte, wie sich bei diesen Worten sein Magen zusammenzog. Er wollte nicht darüber diskutieren. Er wollte doch nur, dass Mary doch noch irgendwie und irgendwann zurückkommen würde. „Ich brauche nur dich, Mary!"

Das letzte Wort war nur noch ein leises Flehen, welches in der Luft zerbrach. Es zerbröselte, rieselte herab und lag schließlich vor ihm auf den alten Stufen, auf den er so oft auf und ab gelaufen war. Manchmal langsam und erschöpft, manchmal schnell und aufgeregt.
„Mary?" Doch als John seinen Kopf hob und auf die Stelle sah, auf der sie gesessen und mit ihm gesprochen hatte, war sie leer.

Er saß alleine auf der Treppe, die Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in den Händen gestützt. Gedanken und Gefühle prasselten auf ihn ein, wie ein Platzregen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. John hatte nie ein normales Leben führen wollen.
Abenteuer und Chaos hatten schon immer eine magnetische Anziehungskraft auf ihn gehabt. Doch war es zu viel verlangt endlich glücklich sein zu wollen?

Es war bereits stockdunkel, als John den Schlüssel in das Haustürschloss steckte, und schnell ins Warme flüchtete. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört die Straßen zu füllen. So als wüsste er genau, was hier auf Erden alles geschehen war. Einen Augenblick blieb John im Flur stehen und sah den Gang hinunter.
Ob aus Hoffnung oder Angst wusste er nicht, doch suchte er diesen Ort nach Marys Anwesenheit ab. Erfolglos. Sie war nicht hier.

Dafür trat nun eine andere Frau aus einen der Zimmer. Sie hatte langes, braunes Haar, welches sie zu einem schüchternen Zopf gebunden hatte und trug einen Wollpullover, der einen großen Kontrast zu ihrer sonstigen Arbeitskleidung darstellte.
„John", sagte Molly und kam ein paar Schritte auf ihn zu gelaufen. „Ich habe Rosie vor einer Stunde Schlafen gelegt."

„Danke", sagte John mit einem matten Lächeln und zog seine Schuhe aus, ehe er sich seine nasse Jacke abstreifte und sie an den Kleiderständer verstaute.
Molly hatte ihm angeboten auf seine Tochter aufpassen zu können, da dies die einzige Möglichkeit war, ihm zu helfen. Seither war sie oft vorbeigekommen und hatte sich rührend um das Mädchen gekümmert.
Seine Dankbarkeit konnte John nur mit Worten und netten Gesten ausdrücken, doch hoffte er inständig, dass sie verstand, wie sehr ihre Unterstützung von Bedeutung war.

„Sie waren bei ihm", riss Molly ihn auf einmal aus den Gedanken. John konnte nicht verhindern zusammenzufahren und ihr einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie nun den Weg nach Hause einschlagen und sich verabschieden würde, dass sie scheinbar ein Gespräch beginnen wollte, rief sofort Unbehagen in ihm hervor.

Da er noch immer nicht antwortete, sprach Molly schließlich mit steigender Selbstsicherheit weiter: „Sie sagten, Sie  würden einkaufen gehen, aber ich brauche nicht Sherlock Holmes zu sein, um zu verstehen, dass ein Mann ohne jegliche Tüten oder sonstigen Einkäufen in den Händen kein einziges Geschäft besucht hat."
Ein Seufzen entfuhr Johns Lippen. Eine Hand an die Wand gestützt, die andere an seiner Hüfte, stand er da und starrte einen Moment auf den Boden.

Entweder schien es die richtigen Worte nicht zu geben oder sie tarnten sich irgendwo fernab seiner Gedanken. Einen Augenblick vernahm man nur das Prasseln des Regens, welcher gegen die Fensterscheibe schlug und das unangenehme Schweigen untermalte.
„Wie geht es ihm?", schaffte es Molly schließlich zu fragen. Ihre Arme verschränkten sich, während sie John nachahmte und den Blick auf den Boden schweifen ließ. „Er spielt", sagte John kaum merklich. „Er spielt Geige"

„Meinen Sie, dass er einen Rückfall bekommt? Dass er wieder Drogen nimmt?" Molly nahm allen Mut zusammen und sah John mitten ins Gesicht. Er machte es ihr nach, doch funkelte in seinen Augen nicht Besorgnis, sondern ein weiterer Anflug von Wut. „Ich weiß es nicht... Und offen gesagt interessiert es mich auch nicht mehr"
„Das ist nicht wahr", widersprach Molly ihm augenblicklich. „Sie fahren ständig zu ihm. Das würde niemand tun, dem das Wohlergehen des anderen nicht wichtig ist"

John schnaubte verächtlich. „Kluge Sprüche habe ich schon genug gehört. Ich brauche keinen, der mir das Leben erklärt oder sich ständig in alles einmischen muss!"
Seine Stimme wuchs zu einem Rufen heran und endete in einem weiteren verächtlichen Laut.
Noch immer wütend fuhr sich John durch die Haare und öffnete dann völlig überfordert die Haustür.
Mit seiner zitternden Hand deutete er in die dunkle und kalte Nacht und erklärte in einem bemüht ruhigen Ton: „Sie sollten jetzt gehen, Molly"

Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu und kam dann verlangsamt seiner Bitte nach. Ohne ein Wort zu sagen, sah John ihr dabei zu, wie sie sich ihre Stiefel und ihre Jacke anzog.
Schließlich stand sie vor ihm und machte Anstalten etwas zu sagen, doch stattdessen trat sie bloß nach draußen und wurde schon bald eins mit der dort wartenden Dunkelheit. Die Tür fiel ins Schloss.
Langsam lehnte sich John an die Wand. Langsam legte er seinen Kopf in den Nacken. Und so langsam glaubte er sich selbst kaum noch ein Wort.

Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt