4. Ein Hauch von Menschlichkeit

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Als das Taxi vor Johns Haus zum Halt kam, hechtete er so schnell aus dem Fahrzeug, wie es seine Beine erlaubten. Der Gedanke daran, dass seiner Tochter etwas zu gestoßen war, fühlte sich an wie ein spitzes Messer, welches sich in seine Brust rammte.
Er hatte sich geschworen auf sie aufzupassen und sie nie wieder von sich wegzustoßen.

Obgleich ihm genau das widerfahren war, als sich alles um hundertachtzig Grad gedreht hatte.
In Rosies Augen, in ihrem Namen und in ihrer neugierigen und mutigen Art, hatte John immer Mary gesehen. Und es hatte ihm das Herz gebrochen, als er sich nicht mehr in der Lage gefühlt hatte, für sie zu sorgen. Das sollte sich nie wieder wiederholen.

Die Tür des Hauses stand ein Stück weit offen, wodurch das ungute Gefühl sowohl in John als auch in Sherlock aufstieg.
John zückte seine Pistole, hielt sie fest umklammert und wusste, dass er Gebrauch von ihr machen würde, sollte es notwendig sein. Sherlock folgte ihm und hängte sich an seinen Versen.
Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er vor John gegangen wäre, doch sah er keinen Sinn darin diesen Wunsch laut auszusprechen.
Sein Freund hatte das recht als erster zu erfahren, was geschehen war.

„Ich bin bewaffnet und ich werde mich nicht zurückhalten zu schießen, sollten Sie meiner Tochter etwas antun", rief John in den Flur hinein und sah sich nach allen Richtungen um.
Wieder einmal bewunderte Sherlock die Stärke und den Mut, die von John ausgingen. Gerade als er den Mund öffnen wollte, hörte er auf einmal ein leises Geräusch.
Da sein Gegenüber augenblicklich in seiner Bewegung einfror, schien es ihm ebenfalls nicht entgangen zu sein. Leises Wimmern wehte von oben die Treppe herunter. Ein Lebenszeichen, wenn auch kein schönes.

Augenblicklich lief John zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben. „Rosie!"
Als Sherlock kurz darauf ebenfalls in das Kinderzimmer trat, stellte er beruhigt fest, dass Rosie wohl auf war.
Ihre Augen waren zwar vom Weinen gequollen und aus ihrem Mund folgten eine Reihe an verschiedensten Wehklagen, doch immerhin schien es ihr den Umständen entsprechend gut zu gehen und es gab keinerlei Verletzungen.
Als hätte John seine Gedanken gelesen, hob er seine Tochter auf den Arm und begann sie flüchtig zu untersuchen.

Das Mädchen lehnte sich völlig entkräftet gegen seine Schulter, während es noch immer leise wimmerte. Das Zimmer sah unberührt aus. Das Bett stand an Ort und Stelle, die Kommode wies keine Unordnung auf (zumindest keine, die nicht von John entstanden war) und das Fenster war geschlossen.
Alles wirkte wie immer. Beide der Männer waren mehr als erleichtert.
Auf Sherlocks Lippen erschien ein leichtes Lächeln, während er Vater und Tochter dabei zu sah, wie sie sich voller Liebe aneinanderschmiegten und froh waren, den anderen wieder bei sich zu wissen.

„Wie konnte ich sie nur bei einer fremden Frau lassen?", fragte John mehr zu sich selbst als zu jemanden bestimmten nach.
Dennoch fühlte sich Sherlock dazu aufgefordert ihm eine Antwort darauf zu geben: „Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du brauchtest nach Molly jemanden, der für sie sorgt. Und es war wirklich absehbar, dass du dieses Mal jemanden auswählst, der dich nicht an deine Vergangenheit erinnert. Ein Fremder also. Da man den Statistiken entnehmen kann, dass man solche Aufgaben meistens eher Frauen anvertraut, hast du dich also instinktiv für eine Frau entschieden, welche sich für dafür anbot und..."

„Das war eine rhetorische Frage!", unterbrach John ihn auf einmal barsch. Es kam nicht oft vor, dass er dies tat. Doch in seiner Stimme klang so viel Hysterie mit, dass auch Sherlock begriff, dass er seine Gedanken jetzt besser für sich behalten sollte. John musste noch völlig unter Schock stehen.
Und Sherlock brauchte Zeit, um die nächsten Schritte abzuwägen.
Es gab um die zehn Möglichkeiten. Acht von diesen führten auf ihn selbst zurück. Johns Schwäche auszunutzen, war ein Schachzug, welcher ebenfalls die Absicht verfolgen könnte, Sherlocks eigene Aufmerksamkeit zu wecken. Schließlich hatte die Fremde Rosie bereits in ihrer Gewalt gehabt und hätte nicht die Nachricht verschicken müssen, sollte ihr Ziel tatsächlich auf das Mädchen zurückzuführen sein.

Nein, es waren sieben... Nein sechs Möglichkeiten. Mühsam versuchte sich Sherlock zu konzentrieren. Es herrschte ein wildes Durcheinander in seinem Kopf. Wie er das doch hasste und gleichermaßen so sehr liebte.
Er ging in dem kleinen Zimmer, auf dessen Boden ein paar Spielzeuge herumlagen, auf und ab und fuhr sich dabei immer wieder mit beiden Händen über den Mund. Er versuchte Johns Gedanken und Bewegungen auszublenden, doch noch bei keinem fiel ihm das schwerer. Er war zu präsent und zu stark, als dass man ihn einfach so wegschieben konnte.

„Hast du ein neues Rasierwasser?", fragte Sherlock urplötzlich nach und sah herüber zu John, der Rosie noch immer beruhigend an sich gedrückt hatte und mit zitternden Knien neben ihrem Bett stand.
„Was zum...", John sah an ihrem blonden Haar vorbei zu Sherlock und überdachte seine medizinische Untersuchung von vorhin noch einmal gründlich.
„Es riecht gut", versicherte Sherlock schnell, da er sich nicht sicher war, ob er es als eine Beleidigung wahrgenommen hatte. „Es ist nur etwas zu intensiv und ablenkend!"

„Verdammt Sherlock! Ich weiß nicht, ob es dir entgangen ist, aber die Nanny meiner Tochter hat uns soeben herausgefordert und ich hatte bis eben Todesangst um Rosie.
Ich weiß nicht, ob du in deinen ach so klugen Schädel bekommst, dass das hier kein Spiel mehr ist. Das ist es schon lange nicht mehr.
Oder glaubst du, dass Marys Tod ein einfacher Schachzug war. Es geht nicht ums Gewinnen oder Verlieren... Es geht um meine Familie. Also kannst du dich jetzt einfach mal zusammenreißen und das alles hier etwas ernster nehmen? Deine Lässigkeit beeindruckt mich nicht!"

Einen Moment schien es Sherlock die Sprache verschlagen zu haben. Er wirkte fast betroffen. Dann fasste er sich wieder: „Es tut mir leid, John. Es ist nur meine Konzentration... Kannst du mich für einen Moment alleine lassen, damit ich nachdenken kann?"
Gerade als John etwas darauf erwidern wollte, hörten sie auf einmal ein Geräusch. Es waren Schritte, mehrere Schritte. Doch klang ein Fußpaar dominanter als die anderen.

Ins Johns Gesicht zeichnete sich der Wunsch nach Sicherheit ab, als er sanft einen Kuss auf Rosies Haare drückte. Mit seinem linken Arm drückte er sie noch immer fest an sich, in der rechten Hand hielt er seine Schusswaffe bereit.
Einige Zeit vernahmen sie weiterhin einzig und allein die Schritte, welche offenbar die Treppe heraufliefen.
Ohne zu zögern schritt Sherlock auf die Tür zu und verharrte anschließend im Türrahmen.

Seine Stimme klang bestimmt, als er sagte: „Wir haben ein Kind bei uns. Das Mädchen ist noch jung. Ich kann mir Ihre Absichten nur lückenhaft erschließen, aber offenkundig geht es Ihnen nicht um sie. Erweisen Sie uns also so viel Menschlichkeit und lassen Sie uns das Kind vorerst aus dieser Situation herausbringen.
Danach stelle ich mich ihren Anforderungen, Fragen oder sei es auch Ihrer Waffe. Ich möchte einzig und allein John und seine Tochter in Sicherheit wissen, bevor ich unter ihre Augen trete. Das ist doch genau ihr Ziel! Es dreht sich doch wie so oft um Sherlock Holmes oder irre ich mich da?"

„Sherlock", stieß John aus und sah ihn einige Zeit mit starrem Blick an.
Noch nie zuvor hatte er so viel Menschlichkeit und Selbstlosigkeit einer Stimme entnommen.
Für einige Zeit vergaß er all das, was in den letzten Minuten geschehen war und das, was nur durch Vermutungen in der nahen Zukunft passieren könnte.
Einen Moment war er einfach nur sprachlos.
Erst, als plötzlich jemand in der Tür auftauchte und Rosie offenbar ebenfalls Notiz von der Gefahr genommen hatte, da sie nun erneut anfing zu weinen, wurde er zurück in die Realität geholt.

Only human [Sherlock/John] (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt