Der Süden

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,,Natürlich machst du keine Umstände. Komm, sonst werden die Tore geschlossen." Theodor nahm meinen Arm und zog mich in eine Richtung. ,,Wo gehst du hin? Wenn du in den Süden willst musst du da lang." Ich zeigte in die andere Richtung. ,,Oh. Ich glaube es ist besser wenn du mich hier raus führst." Er sah zerknirscht zu mir runter. Als ich ihn dann  von ihm durch die engen, matschigen Gassen lief dachte ich nochmal über den Tag nach. Wie ich morgens einfach nur Essen klauen wollte und jetzt, jetzt würde ich das erste mal den Süden betreten. Wir kamen am Tor an, als sie es gerade schließen wollten. Theodor ging selbstbewusst auf die Wachen zu und die ließen uns wirklich durch ohne uns anzuschreien wie sie es sonst immer machten.

 Wir gingen weiter durch die immer breiteren Straßen der Mitte. Hier kannte Theodor sich ziemlich gut aus, was mich kurz stutzen ließ. Leute aus dem Süden verließen jenen nur selten. Warum auch? Den Slum im Norden betraten ja nicht einmal die Leute aus der Mitte. Sie sahen auf ihn herab, egal wie nah sie an der Mauer lebten, egal ob sie eigentlich auch arm waren, aber wenigstens einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt hatten und egal ob ihr Haus von Slummys gebaut worden war. Slummys waren schuld an allem, was den Menschen so  passierte. Als eine Bäckerei abbrannte, hat man einen Mann aus dem Slum dafür in den Kerker geworfen, obwohl der Bäcker selbst an dem Feuer schuld war. Und auch wenn die Mitte deutlich besser war, so kamen doch nur Bedienstete um den Einkauf zu erledigen. Der Süden hatte unterirdische Abwasserkanäle und von der Stadt bezahlte Straßenfeger. All das wusste ich von unserem früheren Nachbarn, denn er hatte sich an einer Aktion für ein gerechteres Zusammenleben engagiert. Das letzte Mal als ich ihn gesehen habe war er auf dem Weg zu einer nicht genehmigten Demonstration. 

Plötzlich drängte sich mir eine Frage in den Kopf. "Theodor, warum warst du auf dem Markt? Habt ihr keine Bediensteten?" Er blieb abrupt stehen und drehte sich langsam zu mir um. "Ich wollte Karotten kaufen?!" Wie er es sagte klang es mehr wie eine Frage. Ich öffnete gerade meinen Mund um nachzuhaken, als wir an ein Stadttor kamen. Das Tor war groß und aus hellem Stein, nicht wie das bei uns, das aus dunklem Backstein war. Als Theodor auf den Wächter zuging verbeugte sich dieser und öffnete mit respektvoll gesenktem Kopf das Tor. Ich folgte Theodor durch den Torbogen und riss staunend die Augen auf. 

Die Straße war breit, hell und mit sauberen Steinen gepflastert. "Und was sagst du?" Theodor sah mich erwartungsvoll an. Was sollte ich sagen? Ich war sprachlos. Ich sah mich also nur mit großen Augen um. Theodor lachte leise und fragte leise: "Du warst noch nie hier, oder?" Ich schüttelte meinen Kopf. "Nein, wie auch? Ich war bis jetzt höchstens am Stoffmarkt." Theodor grinste und nahm meine Hand. Ich drehte meinen Kopf ruckartig zu ihm und er grinste noch ein bisschen mehr. Seine Hand war warm und trocken und sehr weich. Man konnte spüren, dass er noch nie schwere Arbeiten verrichten musste. Er zog leicht an meiner Hand und ich folgte ihm, immer noch staunend und mit großen Augen umherschauend. "Jonathan, kannst du kurz aufhören zu starren?" Theodor blieb stehen und schaute mir eindringlich in die Augen. "Das ist der Marktplatz und das da hinten ist unser Haus." Er zeigte zu einem großen weißen Fachwerkhaus. "Wir müssen bis zu dem roten Haus daneben, dort ist die Gasse in die wir müssen. Siehst du sie?" Ich nickte und schaute zu ihm. Er hatte seinen Kopf direkt über meiner Schulter und sein warmer Atem traf auf meine Haut. Währenddessen hielt er immer noch meine Hand. "Du wartest dort auf mich, verstanden?" Ich schaute ihn erschrocken an "Wie, warten?" Er richtete sich auf und blickte halb besorgt, halb belustigt auf mich herunter. "Ich kann doch nicht mit dir über den Platz laufen. Da wohnen Freunde von meinen Eltern! Wenn ich mit dir gesehen werde bin ich, nein sind wir geliefert." 

"Bis jetzt war das doch auch kein Problem." Ich merkte selbst, dass ich viel zu kläglich klang. Theodor lachte sein leicht raues Lachen und zog mich an sich heran. "Die verlassen so gut wie nie ihr Haus, außer um sich gegenseitig zu besuchen. Und alle anderen hier sind nicht so intrigant, die interessieren sich nicht so sehr für das Leben anderer." Das klang logisch, aber es gab ein Problem "Schau mich doch mal an. Ich bin ganz offensichtlich ein Slummy. Die Wächter verhaften mich sofort." Meine Stimme klang bitter und ich hatte einen Kloß im Hals. Noch nie hatten mich meine abgerissenen Hosen und meine mehrfach gestopfte Jacke so beschämt. Sein Blick wurde weicher. "Hier, du kannst meinen Mantel umhängen, dann sieht es nicht so schlimm aus." Er legte mir den Mantel vorsichtig um die Schultern, so gut es halt mit einer Hand geht, denn ich hielt immer noch seine Hand. Der graue Mantel war zu lang und schleifte etwas auf dem Boden. Er kicherte und wuschelte einmal durch meine Haare. "Du siehst so niedlich aus wenn du meinen Mantel trägst." Er wurde leider sofort wieder ernst. "Du schaffst das Jo." Er ließ meine Hand los und schubste mich ein bisschen los. Meine Hand fühlte sich kalt an ohne ihn.  

Ich machte ein paar Schritte, dann schaute ich zurück. Er lächelte mich an und streckte seinen Daumen in die Höhe. Ich drehte mich um und rannte fast zu der Gasse. Einige Leute schauten mich schräg an, doch das störte mich nicht. Was ich allerdings nicht bedacht hatte war, dass der Mantel so lang war. Ich landete also kurz vor meinem Ziel auf der Nase. Wenn man im Slum hinfiel wurde man dreckig, tat sich aber nicht weh. Hier war es genau anders herum. Ich rappelte mich hoch und schaute noch einmal zurück. Theodor stand noch da und schaute mich fragend an. Ich lächelte kurz und ging dann die letzten Schritte zu der Gasse. In der Gasse war es dunkel und der Boden sogar etwas dreckig. Ich lehnte mich gegen die Wand und wartete. 

Slummy BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt