Du weißt doch schon alles

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Es dauerte nicht lange bis Theodor vor mir stand und sich die Haare aus dem Gesicht strich. "Geht es dir gut?" Er sah mich besorgt an. "Hast du dir bei deinem Sturz weh getan?" Er umarmte mich und ich fühlte mich wieder sicher. "Komm, wir müssen uns etwas beeilen, sonst begegnen wir im Haus noch jemandem." Er wollte gerade losgehen, als ich vorsichtig seine Hand nahm. Er warf einen kurzen, überraschten Blick auf mich und fing dann an zu laufen.

Seine Hand war warm und größer als meine. "Kannst du mir etwas über dich erzählen?" Ich schaute ihn bittend an. "Ich heiße Theodor, bin 19 Jahre alt und wohne in dem Haus da." Er blieb stehen und zeigte auf eine schmale dunkle Tür. Er schaute zu mir runter lächelte und schloss die Tür auf. Wieder drängten sich Zweifel in meinen Kopf. Warum hatte er den Schlüssel zum Hintereingang? Warum kannte er sich in den Gassen hier so gut aus? 

Ich sah mich verstohlen um. Ein paar Frauen in groben Kleidern trugen eine Wanne voller Wasser aus einem dunklen Hof, ein kleiner Junge mit roten Wangen und dreckigen Hosen schaute uns mit großen Augen an und ein Mädchen, das in etwa so alt war wie ich und einen langen fleckigen Rock und eine fadenscheinige Bluse trug, wurde von einem Jungen an eine Hauswand gedrückt und geküsst. Es sah fast so aus wie bei mir zu Hause, nur hier waren alle weniger dreckig und sahen nicht so ausgemergelt aus wie im Slum. 

Trotzdem war es nicht gerade der Ort an dem ich einen reichen, jungen Mann vermutet hätte. Ich wurde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als Theo mich sanft, aber bestimmt, umdrehte und fragte: "Willst du herein kommen, oder übernachtest du hier?" Er lächelte kurz und ich folgte ihm. Meine Bedenken ignorierte ich gekonnt.

Im inneren des Hauses sah die Welt schon ganz anders aus. Der Boden war mit hellen, glatten Steinplatten gefliest und die Wände waren von einer, wenn auch hässlichen, Tapete bedeckt. Theo schaute stolz zu mir herunter und fing dann an zu erklären: "Das hier ist der Teil des Hauses in dem die Dienstboten leben. Da entlang geht es in unsere Küche und zur Speisekammer." 

Er zeigte in einen schmalen Flur neben mir, der spärlich von Kerzen beleuchtet wurde. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Bei uns musste man rußende Lämpchen anzünden wenn man etwas Licht brauchte und selbst die waren so teuer, dass man eine für Weihnachten kaufte und ansonsten bei Anbruch der Dunkelheit schlafen ging. Wachskerzen waren zu teuer für jeden Menschen, der nördlich vom Tuchmarkt lebte. Theo führte mich einen schmalen Gang entlang an dessen Ende eine schmale Wendeltreppe war. "Komm! Wenn wir da oben sind ist es nicht mehr weit in mein Zimmer. Wir kommen dann quasi im Geheimgang der Dienstboten heraus. Er verläuft an allen Zimmern entlang. Durch Tapetentüren gelangt man in die Zimmer. Man kann die Türen auch verriegeln um nicht gestört zu werden, aber dann wird das Zimmer nicht mehr geputzt." 

In der Zwischenzeit sind wir oben in einem noch engeren und noch dunkleren Gang. Theodor brabbelt vor sich hin und ich bin froh, dass wir uns nicht mehr peinlich anschweigen. Aber über was soll man schon mit jemandem reden, der aus dem Süden kommt? Mit jemandem aus dem Slum hätte ich über den traurigen Tod des hilfsbereiten Cornelius geredet, der bei allen sehr beliebt war und dessen früher Tod den ganzen Slum erschüttert hatte. Oder wir könnten über die Fünflinge von Marie Wendel reden, die furchtbar lustig waren und eine Sensation, weil sie alle fünf überlebt hatten. Aber mit Theo?

"So, da wären wir." Theo blieb so plötzlich stehen, dass ich gegen ihn lief. "Oh, Entschuldigung. Ich hab nicht gesehen, dass du angehalten hast. Es tut mir Leid." Ich duckte mich. Im Slum wurde so ein unachtsames Verhalten meistens mit einer Ohrfeige bestraft. "Hey, kein Problem. Jo, ist alles okay?" Theo schaute mich besorgt an. Ich blickte verwundert in seine Augen. Gerade von einem Reichen hätte ich mehr Verärgerung erwartet. "Du willst mich nicht schlagen und bist nicht böse, obwohl ich nicht aufgepasst habe?" Sein Blick wurde weich, fast liebevoll, und er nahm mein Gesicht in seine Hände. Von nahem waren seine Augen noch schöner, er hatte einen goldenen Ring um seine Iris, welche von goldenen Sprenkeln geziert wurde. "Natürlich bin ich dir nicht böse. Es war schließlich meine Schuld dass du gegen mich gelaufen bist. Ich hätte nicht stehenbleiben dürfen." Seine Stimme wurde zum Ende leiser und sein Gesicht kam meinem noch ein Stück näher.

Slummy BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt