Wirklich?

35 4 0
                                    

Als ich jemand wimmern hörte blieb ich stehen. Eigentlich war die goldene Regel im Slum, dass man sich um sich selbst kümmert und sich nicht in die Angelegenheiten von anderen einmischt. Doch heute blieb ich stehen. Vielleicht war es die Tatsache, dass mein Vater mich rausgeworfen hatte, der Grund für mich nicht einfach weiter zu gehen. Ich schlich langsam zu der Gasse und spähte um die Ecke. "Du?" Ein keuchen entwich mir. Er sah hoch wobei ihm seine etwas zu langen, rötlich-braunen Haare strähnig in die Augen fielen, welche vom weinen rot waren. ,,Was willst du? Wegen dir bin ich doch hier gelandet und hab mein Geld verloren und..." sein Schluchzen unterbrach ihn. Ich kniete mich hin. Verdammt das sollte ein Scherz sein und nicht so enden. ,,Hey, nicht weinen. Dein Geld ist sicher,der Bauer ist ein ehrlicher Mann. Und außerdem bist du ja auch selbst schuld, wenn du mir folgst." Das hätte ich lieber nicht sagen sollen, denn der hübsche Junge sah mich jetzt wütend an. ,,Weißt du was? Mein Vater hatte recht als er sagte: >Geh nie in den Slum. Dort wimmelt es von Verbrechern und Idioten.< Du hast dir einen Spaß erlaubt bei dem ich die Konsequenzen trage und du willst mir jetzt sagen, dass ich selbst schuld bin?" Bei jedem >ich< oder >du< schrie er lauter und ich schreckte jedes Mal zusammen.

Ich versuchte zu verstehen was er wollte. Ich hatte etwas falsch gemacht, so viel war klar. Und er hatte alle Slumbewohner beleidigt, so viel war auch klar. Aber was sollte >Konsequenzen< bedeuten? Ich schaute nach unten und wurde rot bevor ich wieder nach oben blickte und leise fragte: ,,Was bedeutet Konsequenzen?" Er sah mich schockiert an, dann begann er zu lachen bis er irgendwann leise keuchte. Als er sich beruhigt hatte erwiderte er leicht atemlos: ,,Du weißt nicht was >Konsequenz< heißt? Sag mal warst du überhaupt in der Schule?" Ich sah wieder beschämt nach unten. ich war tatsächlich in der Schule gewesen, aber nur ungefähr drei Jahre. Ich konnte ein bisschen rechnen und schreiben, aber für schwere Worte wie >Konsequenz< war ich dann doch zu kurz dort gewesen. ,,Ich war drei Jahre in der Schule, dann hab ich eine Ausbildung als Baulehrling angefangen, die ich allerdings abgebrochen habe. Das war nach ungefähr einem weiteren Jahr. Später hab ich damit angefangen mir durch kleine Gelegenheitsarbeiten etwas dazuzuverdienen, doch die Arbeiten bekam ich nur selten. Also hab ich mit klauen angefangen." 

Ich war mir sicher mittlerweile weinrot zu sein und hielt meinen Kopf weiter gesenkt. Eine erstaunlich weiche Hand griff mir sanft ums Kinn und hob meinen Kopf leicht an. Jetzt sah ich dem älteren Jungen in die Augen. ,,Hey, dass wusste ich nicht. Ich wollte dich nicht verletzen." Er sah mir bittend in die Augen, also erwiderte ich ein leises: "Schon gut, nicht so schlimm." Er lächelte leicht und sein Gesicht sah noch schöner aus. Dann plötzlich runzelte er die Stirn. ,,Warum bist du eigentlich hier gewesen? Du solltest doch zuhause sein und essen oder schlafen oder so." Meine Stimme klang ein bisschen kratzig als ich begann zu erzählen: ,,Wie gesagt, ich klaue. Meine Mutter weiß das und wenn ich nicht mehr als ein bisschen Essen klaue und mich nicht erwischen lasse ist das für sie in Ordnung. Mein Vater verabscheut Diebe, ich weiß nicht wieso, aber als ich gesagt habe, dass ich das Essen besorgt habe wurde er misstrauisch und hat mich gefragt ob ich geklaut habe. Und nachdem ich ihm das gebeichtet habe hat er mich rausgeworfen." Meine Stimme brach und eine Träne lief über meine Wange. Er wischte sie mit einem seiner langen, weichen Finger ab. ,,Das tut mir leid. Wirklich. Ich wüsste nicht wie ich ohne meine Eltern leben könnte." Er legte einen Arm um mich und zog mich zu sich heran. Ich fühlte mich sicher, geborgen und warm und das tat so unendlich gut, nachdem ich zuhause so eine Kälte erlebt hatte. Er strich mir sanft über die Haare und murmelte dann: ,,Ich heiße Theodor. Und du?" 

Ich trat einen Schritt zurück und fühlte mich gleich schlechter. Dann erwiderte ich leise: ,,Ich bin Jonathan. Aber eigentlich sagen das meine Eltern nur wenn sie sauer sind." Als ich an meine Eltern dachte zog es schon wieder in meiner Brust. ,,Hey nicht wieder weinen Jona..." ,,Einfach nur Jo." unterbrach ich ihn. ,,Also dann. Nicht weinen Jo." Ich musste lächeln, obwohl ich eigentlich heulen wollte. ,,Wenn du willst, also unter Umständen, du könntest... Oh Mann. Wenn du willst, dann kannst du mit zu mir kommen und da schlafen bis du weißt wohin du gehen kannst." Ich sah ihn an. Konnte ich ihm vertrauen, sollte ich mit einem fremden, reichen, älteren Jungen zu ihm gehen? Aber was sollte ich machen? Zurück konnte ich nicht, um draußen zu schlafen war es zu kalt und die paar "Freunde" die ich hatte würden mich sicher nicht bei sich schlafen lassen. Ich sah ihn an ,,Ist das wirklich okay? Haben deine Eltern damit kein Problem? Dürfte ich wirklich bei dir im Süden in einem großen, richtigen Haus schlafen?" Ich sah ihn an wahrscheinlich so aufgeregt an, dass er lachen musste. ,,Du bist ziemlich süß wenn du rot wirst. Klar kannst du mit zu mir kommen. Wenn wir durch den Hintereingang rein gehen sieht uns um diese Zeit niemand. Da sind dann alle beim Essen. Meine Eltern im Speisezimmer und die Bediensteten im großen Gemeinschaftsraum. Die Hintertür ist also ein sicherer Weg um hinein zu kommen. Wir können dann über die kleinen Treppen in mein Zimmer, die nicht einmal alle Bediensteten kennen. Und wir könnten auf dem Weg etwas aus der Speisekammer holen." Damit hatte er mich. Ich hatte seit über einem halben Jahr nichts richtiges mehr gegessen und satt geworden war ich in letzter Zeit auch nicht. ,,Wenn es wirklich keine Umstände macht komme ich gerne mit."

Slummy BoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt