Am Abend packte ich meine wenige Habseligkeiten in eine abgeschabte graue Tasche, die ich mir vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Mein winziges Zimmer im Arbeiterquartier der Gaststätte war direkt unter dem Dach und hatte nur eine kleine sehr verzogene Luke, durch die ich Luft hereinlassen konnte. Dementsprechend warm und stickig war es in dem dunklen Raum. Ich hob die Lampe etwas höher um den spärlichen Lichtschein besser ausnutzen zu können. Der schwache Lichtschein fiel auf eine Socke, die halb unter mein Schlaflager gerutscht war. Ich bückte mich um sie aufzuheben und kontrollierte dabe, ob noch mehr unter dem Bett lag. Glücklicherweise war das nicht der Fall, denn unter das Bett kriechen und nach einem verirrten Kleidungsstück suchen wollte ich an diesem Abend definitiv nicht mehr.
Endlich hatte ich all meine Kleider und meine wenigen anderen Sachen in der Tasche verstaut. Jetzt fehlten nur noch der Umhang, den ich von Theo bekommen hatte und mein Geldbeutel, der noch auf der grob gezimmerten Kommode lag. Ich hob nahm ihn und setzte mich auf mein Bett. Der Beutel war nicht all zu schwer, doch es war mehr als ich je zuvor besessen hatte. Gedankenverloren kippte ich den Inhalt auf meine Bettdecke, also auf den Umhang, um nachzuzählen, wie viel Geld ich in der Zwischenzeit gespart hatte.
Im Schein der Lampe schob ich die Münzen hin und her und kam am Ende auf sieben Groschen und fünf Heller. Das war wirklich eine Menge, jedenfalls wenn man aus so ärmlichen Verhältnissen kam wie ich. Mit drei Hellern am Tag konnten zwei Personen gut überleben und das nicht mit einer dünnen, faden Suppe, sondern mit Brot und Kartoffeln, Äpfeln oder Karotten. Ich könnte mit diesem Geld also gut und gerne 25 Tage lang ein Zimmer mieten und anständig essen ohne arbeiten zu müssen. Ich raffte das Geld zusammen und packte es zurück in den alten, ledernen Beutel.
Nachdem ich ihn oben auf die Tasche gepackt hatte, legte ich mich in mein Bett und kuschelte mich in den warmen, weichen Umhang. Morgen werde ich Theo wiedersehen. Ich werde ihn ab morgen jeden Tag sehen. Mit diesen hoffnungsvollen Gedanken glitt ich in einen tiefen, ausnahmsweise ruhigen Schlaf.
Lange schlief ich allerdings nicht, denn schon zur dritten Morgenstunde musste ich aufstehen, mich mit einer Schale kaltem Wasser auf dem Gang waschen und meine besten Kleider anziehen. Pünktlich um vier Uhr stand ich dann im Büro von Herr Kleewiese. Mein Chef sah so müde aus wie ich mich fühlte und gähnte an einem Stück. So war er immer morgens, doch anstatt den Arbeitstag für alle eine Stunde später beginnen zu lassen, trank er Unmengen an starkem Tee um wach zu werden.
„Jonathan, schön dass du da bist. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich dich hier eingestellt habe. Du sahst abgerissen und heruntergekommen aus, doch du hast dich sehr gut geschlagen als ich dich als Aushilfe angeheuert habe. Ich beschloss also dich zu behalten und ich habe diesen Beschluss nie bereut. Es ist schade, dass du, einer meiner besten Kellner und begabtesten Köche, uns jetzt verlässt. Ich werde dir als Dank für deine beiden fleißigen Dienstjahre den doppelten Lohn zahlen. Verprasse ihn nicht, sondern gib ihn wohlbedacht aus. Ich hoffe, dein neuer Arbeitgeber kann deine Qualitäten ebenso schätzen wie ich. Kann er das nicht, so bist du hier stets willkommen. Solche wie dich nehme ich gerne zurück."
Nach seiner Ansprache erhob sich Herr Kleewiese und schüttelte mir die Hand. „Vielen Dank Herr Kleewiese. Nur durch sie habe ich einen Platz in der Gesellschaft bekommen. Ich werde natürlich auf ihr Angebot zurück kommen, wenn es nötig ist." Herr Kleewiese gab mir einen Groschen und vier Heller und schüttelte mir nochmal die Hand. Warum er das so oft machte wusste ich nicht, doch ich beschwerte mich nicht. Ich genoss die Anerkennung, denn ich hatte den Anfang meines Lebens fast keine bekommen.
„Auf wiedersehen Jonathan." Herr Kleewiese begleitete mich sogar bis zur Bürotür ehe er sich verabschiedete. Ich sah ihn dankbar an und verabschiedete mich, bevor ich mich umdrehte und den dunklen Flur entlang zum Ausgang ging, der in den Süden führte.
Draußen war ich kurz geblendet vom Licht, obwohl es noch nicht sehr hell war. Im Gegensatz zu den dunklen, engen Fluren und Zimmern in der Gaststätte war es allerdings wirklich hell. Ich schaute auf den Zettel auf den Theo in einer schönen, geschwungenen Handschrift seine neue Adresse geschrieben hatte. Gina hatte mir den Weg dorthin erklärt, doch ich war mir nicht ganz sicher wohin ich gehen musste.
Suchend ließ ich meinen Blick schweifen, als aus einer sehr schmalen Gasse neben mir ein Mädchen trat, das ungefähr in meinem Alter sein musste. Sie trug einfache, aber saubere Kleider, weswegen ich annahm, dass sie Dienstmädchen sein musste. „Entschuldigung." sprach ich sie an „Wissen sie zufällig, wo ich ungefähr hin muss, wenn ich in die Schellbachstraße muss?" Das Mädchen lachte, sie lachte nicht leise und hinter vorgehaltener Hand, wie die meisten Dienstboten lachen, sondern laut und herzlich. „Klar weiß ich wo das ist. Meine Cousine zieht da ein. Ich bin auch auf dem Weg dorthin, ich kann dich also hinführen." Sie schnappte meinen Arm und zerrte mich in einem ziemlich ordentlichen Tempo hinter sich her.
Wir kamen in einen Teil, in dem die Häuser kleiner waren als im Stadtzentrum, aber mindestens genauso schön und reichhaltig verziert waren. „In welches Haus musst du?" fragte das Mädchen neben mir lachend. Irgendwie lief sie immer mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Gegend. „Äh..." Ich kramte schnell den Zettel aus meiner Tasche „Nummer 23" Sie lachte noch ein bisschen mehr. „Ich auch. Bist du ein Bekannter von Theo oder von meiner Cousine?"
Jetzt wo sie es sagte, da fand ich schon ein paar Gemeinsamkeiten mit Gina, die mir vorhin nicht aufgefallen waren. Sie hatten beide lange, glatte schwarze Haare, die gleichen großen Augen und die Stimme von beiden hörte sich so an, als ob sie am Vortag etwas zu viel geraucht und geschrien hatten. „Du bist Ginas Cousine." stellte ich reichlich spät und nicht sonderlich intelligent fest. „Gratulation, du hast recht." Sie strahlte noch ein wenig mehr.
„Komm, das Haus ist gleich da vorne." Sie zerrte mich zu einem wunderschönen, mit einem gepflegten Rasen umgebenen und mit Stuck verzierten Haus, das hinter einer Rosenhecke zu sehen war. Sie ging durch das offen stehende Gartentor und hämmerte energisch gegen die Tür. Eine Minute passierte gar nichts, dann hörten wir ein lautes Rumpeln, gefolgt von einem lauten Fluch.
Augenblicke später wurde die Tür von einem verschlafen aussehenden Theo geöffnet. Er gähnte und fragte dann genervt: „Wisst ihr beiden eigentlich wie viel Uhr es ist? Was macht ihr um kurz nach fünf in der früh schon vor unserer Tür? Und warum seid ihr so laut und weckt uns?" Er sah wirklich nicht glücklich aus, was auch das Mädchen, deren Namen ich immer noch nicht kannte, wie mir gerade auffiel, merkte. Sie umarmte Theo sehr fest und drängelte sich dann an ihm vorbei ins Haus wobei sie ihm erklärte, dass andere Menschen immer so früh aufstanden.
„Kann ich reinkommen?" fragte ich Theo leise, der mich nickend herein ließ.
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Slummy Boy
FantasiDie Stadt der Türme ist in drei Teile geteilt, den Norden , die Mitte und den Süden. Im Süden leben die Adligen und die, die durch Geschäfte reich wurden. In der Mitte leben die Leute, die kleine Läden haben. Solche die in eigenen, schönen Häusern l...