Teil 18

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Der Wind pfiff uns um die Ohren, als wir vor der Ruine standen. Vor vielen Jahren hatte hier eine beachtliche Villa stehen müssen, die vom Bau her einer Burg gleich kam. Zumindest wenn man dem Turm Beachtung schenkte, der immer noch weit in den Himmel ragte, von dem aber trotzdem nur noch die Hälfte zu sehen war. Auch sonst schien die Villa ziemlich viel miterlebt zu haben, denn ein Großer Teil des Hauses war durch einen Bombeneinschlag im zweiten Weltkrieg zerstört worden.
„Komm, lass uns mal reingehen", schlug Nathan vor, der genauso beeindruckt schien wie ich. Obwohl ich ein wenig Angst hatte, das Ding könnte über uns Zusammenfallen wie ein Kartenhaus, sobald wir auch nur einen Fuß in das Gemäuer setzten, siegte die Neugier, sodass ich Nathan in die Trümmern längst vergangener Tage folgte.
„Hir war vermutlich schon das halbe Internat", bemerkte er mit Blick auf sämtliche Unterschriften und Sprüche, wovon die meisten im X-und-y-waren-hier-Stil waren. Das beruhigte mich ein wenig, schließlich waren sie alle wieder heil hier raus gekommen. Durch einen sich biegenden Türrahmen kamen wir in die Küche - oder besser was davon noch übrig war. Die Schränke standen zum Teil offen, das Besteck bedeckte sämtliche Trümmern des Bodens. Von der restlichen Einrichtung war nichts mehr viel zu sehen und auch das Wohnzimmer wurde bereits von seinem Innenleben befreit.
„Sollen wir nach oben gehen?", fragte Nathan mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen hier unten zu bleiben, aber ich wollte auf keinen Fall alleine bleiben, denn irgendwie bereitete mir dieses verlassene Gebäude mit den kahlen Wänden ein unbehagliches Gefühl. Also folgte ich ihm die Treppe hinauf. Die Stufen knarzten unter unsrem Gewicht und bei jedem Schritt betete ich zu Gott, dass uns die Holzplatten tragen würden.
Wir bogen nach rechts ab und betraten einen etwas kleineren Raum. Sein Anblick machte mich traurig: überall lagen alte verstaubte Spielzeuge über den Boden verteilt und ein ebenso mitgenommenes Schaukelpferd sah mich mit müden Augen an. Augenblicklich fragte ich mich, was wohl aus dem Kind, dem diese Sachen gehört hatten, geworden ist.
Neben dem Kinderzimmer befand sich wohl das elterliche Schlafgemach. Es war um einiges geräumiger und verfügte über ein großes Doppelbett, das mit staubigen Decken belegt war.
„Manchmal frage ich mich, was in den Leuten aus unserer Zeit krankes vorgeht", bemerkte Nathan kopfschüttelnd und deutete - nach meinem fragenden Blick - auf einen kleinen Haufen benutzter Kondome in der Ecke. Angewidert verzog ich das Gesicht. Von dem Zimmer führte ein Loch in der Wand zu einem anschließenden Raum. Nathan kletterte durch die Öffnung. Ich wollte ihm folgen, doch blieb mit meinem Schnürsenkel an einem abstehenden Stein hängen und drohte zu fallen und mich auf dem harten Boden wiederzufinden, hätten mich nicht zwei starke Arme aufgefangen.
„Du brauchst mir nicht zu Füßen zu liegen", lachte er und stellte mich wieder auf die Beine. Meine Hände lagen auf seinen Schultern, auf die ich mich notgedrungen abgestützt hatte und ich konnte deutlich seine Wärme spüren, obwohl auch er eine Jacke trug. Peinlich berührt nahm ich sie zurück zu mir, wobei er seinen Blick nicht von dem meinen löste. Er hatte wunderschöne Augen. Selbst das trüber Licht schien sich in ihnen zu brechen und ließ es so aussehen, als bestünde seine Iris aus tausenden bunten Splittern.
„Hab ich was im Gesicht?" Er sah mich immer noch an.
„Was?" Das hatte mich ein wenig aus dem Konzept gebracht.
Er verringerte den Abstand zwischen uns, in dem er einen Schritt auf mich zu machte. Sollte ich zurückweichen oder bleiben? Zurückweichen oder bleiben? Wir waren nur noch wenige Zentimeter voneinander getrennt, während unsere Blicke sich nicht von einander losreißen wollten. Mein Puls war in den letzten Sekunden auf 180 gestiegen.
„Ich denke wir sollten zurückgehen", flüsterte er.
„Ja, da hast du recht", stimmte ich zu. Dann ging Nathan an mir vorbei und stieg durch das Loch Richtung Ausgang.

„Er wollte dich küssen Rose!", schleuderte Bie mir aufgeregt entgegen, als ich ihr von unserem Ausflug erzählte.
„Nicht so laut. Es muss doch nicht jeder hören." Ich sah mich nach jemandem um, der unser Gespräch vielleicht gehört haben könnte. Gottseidank schienen Bie, ich und ein Junge der mindestens zwei Jahrgänge unter uns sein musste die Einzigen zu sein, die an diesem Samstag Nachmittag in den Arbeitsecken saßen.
„Außerdem glaube ich nicht, dass er das wollte."
„Natürlich wollte er. Warum sonst hätte er so reagieren sollen?"
„Und warum hat er es dann nicht getan?", stellte ich die Gegenfrage.
„Vielleicht hat er sich nicht mehr getraut. Oder wusste nicht, ob du es auch möchtest." Augenblicklich stellte ich mir jene Frage, dich ich seit unserer Rückkehr verdrängte: Wollte ich es denn? Bevor ich meine Gedanken filtern konnte, flog ein fettgedrucktes JA durch meinen Kopf, das von einem unterstrichenem NEIN!!! mit drei Ausrufezeichen und einem Bild von Herrn Bachert verdräng wurde.
„Mach du doch beim nächsten Mal den ersten Schritt", schlug Bie vor.
„Wer sagt, dass ich das überhaupt möchte?" Das Thema war mir momentan einfach zu viel. Noch heute Vormittag saß ich bei meinen Lehrer und hatte - und jetzt-. Mein Kopf konnte die Gedankenfetzen nicht vollenden.
„Das bleibt aber unter uns okay? Kein Wort zu Selena und Loreen. Sonst wars das mit einem ruhigen Abend", ermahnte ich sie.
„Na von mir aus. In einer Stunde beginnt der Karaokeabend im Aufenthaltsraum im Zweiten. Bist du dabei?" Ich sah überrascht auf.
„Ich wusste gar nicht, dass es hier solche Veranstaltungen gibt."
„Die Schule hier ist doch ich ganz unmodern", zwinkerte sie. „Ein mal im Monat findet hier so etwas statt. Pokerabende, Karaoke, Kino, Tischkickerturniere und im Sommer auch noch andere sportliche Wettkämpfe." Das erstaunte mich wirklich. „Also bist du dabei? Selena, Loreen und Paul kommen auch." Ich zögerte noch. Eigentlich war mein Tag schon aufregend genug gewesen.  „Du musst auch nicht singen. Es wird später sowieso eher wie ein Abend im Club, glaub mir." Sie klang wirklich begeistert.
„Na dann kann ich wohl nicht nein sagen", stimmte ich schließlich zu.
„Super", lachte sie, „dann müssen wir nur noch was zum Anziehen finden." Damit zog sie mich hinter sich her Richtung unserer Zimmer.

Lehrer meiner LustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt