Teil 27

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Ich fühlte mich mies. Die Nacht war viel zu lang gewesen, war dahin gekrochen wie eine Schlange, der man sämtliche Wirbel gebrochen hatte. Meine Augen waren verklebt. Müde rieb ich die Überreste meiner Tränen aus ihnen und  schmiss mich zurück in mein Kissen.
Ich wusste nicht, ob ich es bereute. Es war schön gewesen, aufregend und feurig, hatte sich bis zum letzten Moment so gut angefühlt. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl gehabt, wirklich zu wissen, wer er war und vielleicht sogar eine Bindung zu ihm aufgebaut zu haben. Die Art wie er mich berührt hatte war so warm und zärtlich gewesen. Alles war perfekt.
Und dann hatte er es zerstört.
Nur ein Satz. Eine Geste, nur wenige Augenblicke, nachdem wir erschöpft zusammengesackt waren.
„Du solltest jetzt gehen."
Als wäre es nichts besonderes gewesen. Als wäre ich bestellt, benutzt und wieder abgelegt worden. Als wäre es das nicht wert gewesen.
Vielleicht überdramatisierte ich es auch. Nein. Ich habe ihm alles gegeben und es hatte mich viel Überwindung bis dahin gekostet und er stieß mich einfach weg, nachdem er sein Ziel erreicht hatte? War das von Anfang an sein Plan gewesen? „Mal sehen wie lange ich brauche, um die Kleine flachzulegen?"
Ich hasste diese Vorstellung so sehr, dass ich mit der Faust in mein Kissen boxte. Doch es half nichts. Ich musste aufstehen. Geschichte hatte ich nicht in der ersten Stunde, wenigstens ein kleiner Lichtblick.

Das Frühstück hatte nur wenig Geschmack. Bie saß mir gegenüber und schwieg. Natürlich wusste sie, dass mich etwas beschäftigte. Ich war wirklich dankbar, dass Loreene heute erst zur zweiten Stunde Unterricht hatte und deshalb später frühstücken würde.
„Du siehst aus wie ein seelisches Wrack", brach sie schließlich das schweigen.
„Danke." Ich brachte ein müdes Lächeln zustande.
„Freunde sagen dir, wie gut du aussiehst, aber beste Freunde sind ehrlich. Ist etwas passiert?"
Da war was dran. Nichts war passiert. Ich hatte meine Jungfräulichkeit an meinen Lehrer verloren, der mich daraufhin aus seinem Zimmer geschmissen hatte.
„Alles gut", sagte ich stattdessen. „Hab nur schlecht geschlafen."
„Liegt bestimmt am Vollmond. Da schlafe ich auch nicht so gut", sagte sie aufmunternd.
„Ja, vermutlich hast du recht."
Nachdem wir gegessen hatten, packten wir in unseren Zimmern die Taschen für den Unterricht und trafen uns schließlich vor dem Raum, in dem wir gleich Mathe haben würden.
Montag war ein träger Tag, auch hier im Internat. Jene Lehrer, die uns übers Wochenende Hausaufgaben aufgegeben hatten, besprachen diese, der Rest verteilte Aufgaben für die Stunde. Nur selten wurde in Gruppen gearbeitet oder gar ein neues Thema angefangen.
Mathe, Sozialkunde, dann Deutsch, mein Lieblingsfach, für das ich normalerweise brannte, doch heute war alles anders.
Als es klingelte wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Geschichte ließ sich nicht aus meinem Stundenplan streichen, egal wie sehr ich darum betete oder wie oft ich den Stundenplan nach einem Stundenausfall gecheckt hatte.
Als Herr Bachert den Raum betrat, saßen bereits alle auf ihren Plätzen. Nathan saß neben mir, war aber zu meinem Glück zu sehr mit Korrekturlesen seiner Geschichtshausaufgaben beschäftigt und beachtete mich kaum. Anders als mein Lehrer. Während er sich setzte, huschten seine Blicke kurz zu mir und besahen mich mit einem undefinierbaren Ausdruck.
„Ich werde euch heute eine mündliche Einschätzung eurer Mitarbeitsnote geben. Sobald ihr wisst, was für Ansprüche ich habe, werde ich so etwas kein zweites Mal machen. Danach ist jeder für sich selbst verantwortlich! Ich wollt gute Noten? Dann verhaltet euch dementsprechend! Ihr werdet der Reihe nach zu mir nach draußen kommen. Als erstes möchte ich eine Selbsteinschätzung von euch haben. Danach werde ich diese kommentieren und gegebenenfalls berichtigen. In der Zwischenzeit lest ihr die Seiten 134 bis 137 sowie Q3 auf Seite 138 und schreibt eine Analyse, wie es eurer Meinung nach zu den Ausschreitungen kommen konnte. Noch fragen?" Die Betonung seiner Frage ließ vermuten, dass er keine Fragen erwartete. Trotzdem meldete sich ein Junge der hinteren Reihe, dessen Namen ich mir einfach nicht merken konnte, weil er so gut wie nie etwas sagte.
„In Stichpunkten oder als Text?" Ich betete, dass Herr Bachert humorvoll mit der Frage umging. Doch dieser antwortete nicht darauf, nahm einen Stuhl und verließ den Raum.
Ich war mittig im Alphabet, hatte also noch ein wenig Zeit. Eine mündliche Einschätzung. Ausgerechnet heute. Oder war das kein Zufall, sondern ein Vorwand. Wollte er sich bei mir entschuldigen? Ich würde es bald herausfinden. Nacheinander gingen Schüler heraus, kamen wieder herein. Die meisten verzogen keine Miene. Ein Mädchen schluchzte leise, als sie zu ihrem Platz zurück ging. Nathan war vor mir dran und verließ den Raum. Eigentlich war das unfair, denn er war noch nicht so lange hier wie wir anderen. Außerdem, wusste ich natürlich, dass Herr Bachert noch andere Gründe hatte, ihn schlecht zu bewerten. Doch als er zurückkam, sah er nicht verärgert aus.
„Und?", flüsterte ich.
„Ich bekomme meine Einschätzung nächste Woche", sagte er. Überraschender Weise war das fair.
Nun waren wir bei H angekommen. Viel Zeit zum nachdenken, über das, was ich sagen sollte blieb mir also nicht mehr. I, dann J, K und... L.
Ich atmete tief durch. Dann stand ich auf und ging durch den Raum zur Tür. Links daneben saß Herr Bachert. Anders als die meisten Lehrer hielt er kein Notizbuch in der Hand. Ich schloss die Tür und stellte mich zu ihm. Er musterte mich, sagte aber nichts. Es war ein komisches Gefühl.
„Trägst du es noch?" Ich war irritiert.
„Was?"
„Das Zeichen deiner Zugehörigkeit." Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.
Schließen stand er auf, kam mir immer näher, bis sein Gesicht eng an meinem hing. Dann flüsterte er mit tiefer Stimme:
„Du. Bist. Mein." Ein Schauer lief mir über den Rücken und mir wurde kalt. Ohne, dass er sich von mir wegbewegt hatte, beobachtete ich, wie er in die Tasche seines Hemdes Griff und einen Stift herauszog. Dann ließ er ihn fallen.
Langsam bückte er sich, griff mit der einen Hand nach dem Stift, mit der anderen an meinen Knöchel. Während er sich erhob fuhren seine Finger ebenfalls nach oben, bis sie das kleine Metallkettchen ertasteten.
Ein zufriedenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Es klingelte.
„Vergiss das nicht", sagte er, die Klassentür ging auf und Schüler schritten durch die Lücke zwischen uns.

Lehrer meiner LustWo Geschichten leben. Entdecke jetzt