Müde schleppe ich mich aus dem Fahrstuhl und schultere meine Handtasche. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so nervös gewesen bin zur Arbeit zu kommen. Womöglich war das an meinem ersten Tag, an dem ich noch immer nicht begreifen konnte, dass Rebecca mich wirklich als ihre Assistentin eingestellt hatte. Dankbarer hätte ich ihr nicht sein können, weil sie mir eine Chance gegeben hat – anders als andere Firmen, bei denen ich mich für eine einfache Bürotätigkeit beworben hatte. Aber vermutlich war ihnen der Gedanke einer Bürokraft ohne jegliche Erfahren oder gar ein Studium zu abstrakt, als dass sie mich eingestellt hätten.
Heute ist meine Motivation und Laune allerdings am Tiefpunkt und das liegt ganz allein daran, dass Trevor und ich einen Moment der Schwäche hatten. Wir beide kennen nun die Wahrheit und ich kann mich nicht mehr hinter meinen Ausreden verstecken. Doch das ist für mich nicht einmal mehr das Schlimme an dieser Situation. Es ist das schlechte Gewissen, dass durch unseren Kuss nur noch größer geworden ist. Es sind die Schuldgefühle, die ich Rebecca gegenüber empfinde, weil ich wieder einmal ihren Freund geküsst habe und es sich auch noch so gut angefühlt hat, wie lange nichts mehr in meinem Leben. Trevors Lippen, die sanft auf meinen liegen und gleichzeitig ein Gefühl der Leidenschaft in mir wecken – es fühlt sich verdammt richtig an. Auch, wenn ich weiß, dass das zwischen uns nicht sein darf, kann ich nicht anders als an die Schmetterlinge zu denken, die seitdem ununterbrochen in meinem Bauch tänzeln. Dieser Moment zwischen uns beiden hat mich beflügelt und doch weiß ich, dass es das letzte Mal gewesen ist. Es muss das letzte Mal gewesen sein, weil wir schon zwei Mal zu weit gegangen sind und es beim letzten Mal sogar ganz bewusst gewesen ist.
Ich verwerfe den Gedanken, als ich an meinem Schreibtisch ankommen und meine Tasche abstelle. Mein Körper fühlt sich schwer an und ich brauche erst einmal einen Moment, um meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Am Liebsten wäre ich heute im Bett geblieben, doch das funktioniert nicht so einfach. Calvin hat mich ebenfalls überreden wollen, dass ich heute zuhause bleibe, doch ich habe dankend abgelehnt.
Nachdem ich Trevor auf dem Ball einfach stehengelassen habe, sind Calvin und ich nach Hause gefahren. Er hat sich an die tausend Mal für seinen Fauxpas entschuldigt, doch ich habe ihm gesagt, dass alles okay sei. Ob er es mir geglaubt hat oder nicht, war mir ziemlich egal. Calvin soll sich keine Vorwürfe machen, nur weil ich nicht ehrlich zu ihm gewesen bin. Sadie und Nola waren auch extrem distanziert, nach diesem Abend und noch keine von ihnen hat gefragt, was mich veranlasst hat so früh zu gehen. Gut möglich, dass meine Freundinnen ausnahmsweise ein wenige Zurückhaltung zeigen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn diese in den nächsten Tagen wieder zunichte gemacht wird, weil sie doch neugieriger sind als gedacht.
»Guten Morgen!«, flötet Rebecca, als sie wenig später nach mir aus dem Fahrstuhl kommt und vor meinem Schreibtisch stehen bleibt. Sie lächelt mich breit an und ich zwinge mich dazu, es zu erwidern, obwohl es mir verdammt schwer fällt.
»Morgen«, erwidere ich matt und schalte meinen Computer ein.
»Der Ball war ein voller Erfolg. Wo bist du nur auf einmal gewesen? Trevor sagte, es ginge dir nicht gut. Was war los?«, fragt sie und setzt sich vor meinem Tisch hin.
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Blinding Lights
Literatura FemininaSeit vier Jahren lebt Hailey Michaels nach einem Schema - arbeiten, schlafen und ganz nebenbei noch ihren kleinen Bruder Calvin versorgen. Spontanität und Spaß sind in ihrem Leben wirklich ein Fremdwort geworden, zumindest solange bis ihre Freundi...