Kapitel 16

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Chemistry between people is the strangest science of all.
- Bridgett Devoue -

Als ich am nächsten Morgen um Sieben gähnend aus dem Tor trat, stand Jai schon pünktlich wie die Maurer dort und mit dem Rücken zu mir gedreht.

„Du bist zu spät," sagte er, ohne sich umzudrehen und ich sah stirnrunzelnd auf die Uhr, die über dem Schlafsaal hing.
Punkt Sieben.

„Nein," erwiderte ich gedehnt. „Ich glaube, ich bin..."
„Viel zu spät." Jetzt drehte er sich um und musterte mich zweifelnd. „Meine Uhr sagt, es ist zwei nach Sieben."
Ich verdrehte die Augen. „Und wenn schon, ich..."
„Ich erwarte, dass du das nächste Mal pünktlich bist," fuhr er mich an.
„Jawohl, Captain," antwortete ich grinsend und salutierte.
Jai dagegen sah alles andere als gut gelaunt aus und zog in altbekannter Art seine Augenbrauen zusammen.
„Komm mit," sagte er schließlich und wir liefen zum Armeegelände.
Zu dieser Zeit war der Platz noch leer und die Matten und Kampfgeräte lagen herum.
„Hier wirst du mich trainieren?," fragte ich ungläubig.
Er nickte. „Allerdings."
Dann befahl er mir, mich auf eine Matte zu stellen.
Ich tat, was er sagte.
Auch er kam auf die Matte und stellte sich vor mich.
„Hör zu. Ich weiß, dass macht dir ein wenig Angst, aber du wolltest, dass ich dich ausbilde. Also werden wir jetzt deine Fähigkeit trainieren."
Ich nickte und bemühte mich, gefasst zu wirken, doch innerlich fühlte ich mich wieder furchtbar.
„Also gut," fuhr Jai fort. „Du siehst mir jetzt einfach in die Augen und versuchst, meine Gedanken zu lesen, okay? Lass' dir dabei so viel Zeit, wie du brauchst. Und ganz wichtig: Bevor du das machst, musst du entspannt sein. Sonst passiert das Gleiche wie letztes Mal."

Erstaunt sah ich ihn an. Er wusste davon? Warum hatte er nicht versucht, es zu verhindern?
Doch dann erinnerte ich mich daran, wie jemand das Zelt betreten und geschrien hatte. War er das etwa gewesen?
Außerdem überraschte es mich, dass er als einziger keine Angst vor meiner Fähigkeit zu haben schien.
Wieso?

„So, jetzt schließe erst mal deine Augen und atme ein paar mal tief ein und aus."
Ich tat, wie er es sagte und schloss die Augen.
Es war etwas komisch, so da zu stehen und mich nicht zu bewegen, nur auf meine Atmung zu achten. Vor allem fühlte ich dabei Jais Blicke auf mir, was die ganze Sache sehr unangenehm machte.

Doch gleichzeitig war es beruhigend und erdend. Ich fühlte plötzlich ganz bewusst den leichten, heißen Wüstenwind auf meiner Haut, die Orte, an denen mich die Sonne kitzelte und mein gleichmäßiges Atemgeräusch.
Und auf einmal war ich völlig entspannt. Ich hatte gar keine Angst mehr und als ich die Augen wieder öffnete und in Jais sah, verspürte ich nur noch ein leichtes Pochen in meiner Schläfe und ein leichtes Brennen in meinen Augen und sein Gedanke erschien in meinem Kopf.

Siehst du, es geht doch.

Ich musste lächeln und obwohl er nicht wirklich zurück lächelte, bemerkte ich doch eine leichte Bewegung seiner Mundwinkel.

„Sehr gut, das hat doch schon mal super geklappt," riss er mich aus meinen Gedanken und ich rieb mir verlegen über die Stirn
„In der nächsten Zeit wirst du nicht nur lernen, deine Kraft überhaupt anzuwenden, sondern auch, wie du sie anwendest und vor allem, wie du sie kontrollierst. Du willst ja nicht jedes Mal, wenn du jemandem in die Augen siehst, seine Gedanken lesen."

Er wollte sich gerade umdrehen, als ich ihn aufhielt.
„Warum machst du das?," fragte ich.
Er drehte sich wieder zu mir um und schaute mich fragend an.
„Warum mache ich was?"
„Warum trainierst du mich? Ryu hat sich geweigert und jeder, der von meiner Kraft erfährt, kriegt es mit der Angst zu tun. Wieso also hilfst du mir jetzt?"
„Weil es nichts bringt, jemanden im Lager zu haben, der nicht ausgebildet ist. Wir brauchen hier jeden. Wenn du nicht ausgebildet bist, bist du nur ein lästiges Anhängsel, dass hier wohnt, isst, schläft und Sicherheit bekommt, aber nichts im Gegenzug dafür tut."

Da war ja wieder seine ehrliche Seite.

„Außerdem kannst du ganz schön überzeugend sein," fügte er hinzu und brachte mich zum Lächeln.
„Lass' uns weiter machen," fuhr er fort und wir stellten uns wieder hin.
Er reichte mir ein paar Boxhandschuhe und ich sah ihn fragend an.
„Ryu hat dir doch bestimmt gesagt, dass die Ausbildung nicht nur mental, sondern auch körperlich ist. Jetzt kommt der körperliche Teil."

Die ganze nächste Stunde boxten wir also.
Naja, er tat es jedenfalls. Ich fiel konstant hin und schrie bei jedem noch so kleinen Schlag auf.
Ich wusste ja, dass ich mich blöd verhielt, aber in Krafttraining war ich nicht besonders gut ausgebildet. In Ausdauer schon, das hatte ich drauf.
Und das konnte ich nach dem Boxen auch beweisen, als Jai irgendwann genervt aufgab und meinte, dass wir jetzt laufen sollten.
Nur einen Moment, nachdem wir unsere Laufschuhe angezogen hatten, sprintete ich los und Jai rannte mir fluchend hinterher.
Mit Freude sah ich, dass er weit hinter mir war und ich noch nicht mal ansatzweise außer Atem geriet. Zum Glück war ich es gewohnt, auf Sand zu laufen und obwohl ich das normalerweise barfuß tat, verzichtete ich hier darauf, weil ich quasi schon sehen konnte, wie kochend heiß der Sand war.

Nach einer ganzen Weile lief ich etwas langsamer, sodass er mich einholen konnte und er blieb keuchend neben mir stehen.
„Also das...habe ich nicht...erwartet," schnaufte er und sah mich mit einem Blick an, der mir Freude bereitete.

Er sah mich an mit Respekt.

„Danke," sagte ich erfreut.
„Lass' uns zurücklaufen. Ich habe Hunger," meinte er und ich nickte zustimmend, Gemeinsam liefen wir in gleichem Tempo zurück und trafen beim Frühstück ein, wo ich mich an den Tisch zu Olivia, Harry und Reign, die ich mittlerweile den Zwillingen vorgestellt hatte, setzte.

„Nanu," sagte Olivia. „Wie siehst du denn aus? Warst du laufen?"
Immer noch außer Atem nickte ich.
„Jai hat mit mir meine Ausbildung angefangen."
„Und? Wie läuft es? Hat es besser geklappt als beim letzten Mal?," fragte Reign und verzog den Mund.
„Allerdings. Ich konnte ohne Schmerzen seine Gedanken lesen," erwiderte ich stolz.
„Dieser Ryu kann wirklich was erleben." Olivia schüttelte verständnislos den Kopf.
„Der ist mir ziemlich egal. Jetzt muss ich ja nicht mehr mit ihm trainieren," erwiderte ich und lächelte meine Freunde an.

Zum Glück.

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