Mutter und Sohn

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Die Tür schließt sich hinter Leano mit einem leisen Klicken. Er ist eine Bushaltestelle zu früh ausgestiegen, weshalb er den Rest gehen musste. Das Gespräch mit Menowin spukt noch immer in seinem Kopf herum und lässt ihn einfach nicht los. Lebt er nach diesen Prinzipien? Die Teilnahmslosigkeit, welche er an den Tag gelegt hat, ist Antwort genug. Jedoch hat er ihn nicht ein einziges Mal lächeln gesehen, glücklich scheint er nicht zu sein. So viel zu seinen Überzeugungen.

„Ich bin wieder da", ruft Leano in die Dreizimmerwohnung. Mit Kim, seiner Mutter, wohnt er im zweiten Stock eines gutbürgerlichen Wohnhauses.

Der Flur ist zugemüllt mit Schuhen, Jacken und alten Zeitungen. Die Wände sind in einem hellen Gelb gestrichen, welches mit der Zeit jedoch einen gräulichen Ton angenommen hat und abgesehen von einer Stelle, an der mehrere Zettel angepinnt wurden, kahl ist. Ein strenger Rauchgestank füllt die abgestandene Luft. Auf dem Weg in sein Zimmer schielt er ins Wohnzimmer.

Es ist der größte Raum und dennoch recht klein. An der rechten Wand steht eine Couch. Da sie unter grauen und schwarzen Decken verborgen ist, ist ihre echte Farbe und Beschaffenheit nicht zu erkennen. Ein niedriger Holztisch steht davor. Bierdosen, benutztes Geschirr und Zigarettenstummel stapeln sich darauf und erklären den strengen Geruch. Die Schrankwand auf der gegenüberliegenden Seite der Couch besteht aus mehreren Schubladen und Fächern. Ein großer Fernseher steht auf dem vorgesehenen Platz und läuft leise im Hintergrund. Durch die Fensterfront scheint die Nachmittagssonne ins Zimmer und lässt den Staub in der Luft flimmern. Kim steht auf dem Balkon und diskutiert heftig mit einer Person am anderen Ende der Telefonleitung. Zwischen ihren Lippen steckt eine glimmende Zigarette.

Leano schleicht weiter in sein Zimmer. Ausgestattet mit einem Einzelbett, Schrank und einer kleinen Arbeitsnische ist das Zimmer bereits gefüllt. Auf dem Boden liegen Pinsel und andere Malutensilien, während in einer Ecke Skizzenbücher liegen und sich kleine Leinwände stapeln. Die weißen Wände sind beschmiert mit hundert verschiedenen Bildern. Es ist genauso chaotisch wie der Rest der Wohnung.

Umgehend schält er sich aus der schwarz-blauen Schuluniform und zieht sich ein T-Shirt und eine lockere Jogginghose über. Nachdem er das Fenster aufgerissen hat, schmeißt er sich auf das Bett und beginnt mit seinen Hausaufgaben. Jedes Fach fällt ihm leicht, weshalb er nicht lang daran sitzen muss. Als er all seine Schulsachen unters Bett geschoben hat, steht er auf und geht in die Küche.

Sie ist der einzige Platz im Haus, bei dem ihn Unordnung stört. Er ist nicht besonders penibel. Ebenso nicht Kim. Allerdings sieht die Küche normalerweise immer ganz anständig aus. Leano rümpft die Nase - nicht so heute. Die Milch steht offen auf der Arbeitsfläche mitten im Sonnenschein und er kann bereits den sauren Geruch erschnuppern. Über dem Obstteller fliegen mehrere Obstfliegen herum. Kim hat die halbe Küche umgeräumt. Mehrere Löffel sind in einen dickflüssigen Brei getaucht, der über die ganze Arbeitsfläche verschmiert ist. Außerdem liegt eine Mehltüte in der Spüle und Mehlfinger kleben an den Schränken und Griffen. Der Herd ist an und der Kühlschrank nicht richtig zu.

Leano kippt die Milch und den Brei weg und räumt das Mehl zurück in den Schrank. Ohne das Kim es bemerkt, holt er die dreckigen Teller und Gläser aus dem Wohnzimmer und wäscht sie ab. Gerade als er alle Flecken entfernt und die Arbeitsfläche wieder sauber ist, hört er die Balkontür zuknallen.

„Leano?" Beinahe hätte er aus purer Gewohnheit geantwortet, kann es sich allerdings noch früh genug verkneifen. Kims kratzige Stimme ist leise gewesen. Er tut so als würde er sie nicht wahrnehmen, als sie sich an den Türrahmen zur Küche lehnt.

„Ich habe gar nicht bemerkt, wie du gekommen bist."

Leano hebt den Kopf. Kim hat himmelblaue Augen, genau dieselbe Farbe wie die seines rechten Auges. Sie ist ein kleines Stück größer und der hohe Pferdeschwanz lässt sie nochmal einige Zentimeter wachsen. Auch wenn sie bereits Anfang vierzig ist, scheint sie keinen Tag älter als dreißig Jahre zu sein. Um ihre Augen sind Lachfältchen zu erkennen und ihre leicht rundliche Figur lässt sie herzlich erscheinen. Schnell wendet Leano sich wieder der Küche zu.

„Ich bin vor fast einer Stunde heimgekommen."

Sie nickt und tritt in die Küche ein. Ungewollt versteift sich Leano und seine Bewegungen werden fahriger. „Was gibt es zu essen?", fragt Kim.

„Ich habe noch nichts angefangen. Wie wäre es mit einer Gemüsepfanne?"

„Vegetarisch also, mh?" Forschend sieht sie ihn an und schließlich lächelt sie. Leano entspannt sich und ein wohliger Schauer läuft ihm den Rücken hinab, als er das glückliche Strahlen in ihren Augen erkennt.

„Wir haben noch etwas Gemüse da, aber ich weiß nicht, ob das ausreicht." Sie deutet auf die Tomaten, Aubergine und Zucchini in der Gemüseschale. „Schreib mir einen Zettel, dann gehe ich schnell alles im Supermarkt holen."

Leano nickt erfreut und erstellt mit einem kurzen Blick in den Kühlschrank eine Einkaufsliste. „Was ist mit deiner Nase passiert?", fragt Kim beiläufig, doch kann er ihren brennenden Blick im Rücken spüren.

Glücklicherweise hat er bereits mit einer solchen Frage gerechnet. Er gibt ein peinlich berührtes Lachen von sich, kratzt sich verlegen im Nacken und blickt über die Schulter zu ihr. „Ein Mitschüler hat mir volle Kanne einen Basketball aus der Nähe auf die Nase gehämmert. Aus Versehen natürlich, trotzdem hat sie angefangen zu bluten. Der Kerl hat einen echt starken Wurfarm."

Leano wusste bereits von kleinauf, wie man lügt, weshalb Kim ihm auch nach einem intensiven Blick Glauben schenkt. Sie ist überrascht, sie hat offensichtlich mit etwas anderem gerechnet, dafür ist sie jetzt umso fürsorglicher. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt?" Kim stellt sich nahe vor Leano hin und als sie die Hand hebt beginnen seine zu zittern. Schnell vergräbt er sie in seinen Hosentaschen. Vorsichtig streicht sie über die dunkle Verfärbung. In seiner Brust schlägt sein Herz kräftig und pumpt Wärme durch seinen Körper. Die Berührung seiner Mutter ist federleicht und sanft. „Ich hole dir eine Schmerztablette."

Als sie zurück ist, reicht sie ihm die Tablette und ein Wasserglas mit einem „Hier". Ohne Widerworte schluckt er die Tablette und leert das Glas in einem Zug.

„Was ist eigentlich mit der Küche passiert?" Er macht eine ausladende Bewegung, um den gesamten, mittlerweile wieder schmutzfreien Raum einzuschließen. Nun ist Kim diejenige, die verlegen ist und ihre Wangen verfärben sich zu einem Hellrosa. „Ich habe versucht, Pudding für später zu machen."

„Dafür hast du Mehl gebraucht?"

Sie verschränkt bockig wie ein kleines Kind die Arme vor der Brust. „Offensichtlich war das falsch."

Leano muss über Kims Unbeholfenheit schmunzeln und das kleine Lächeln erreicht seine Augen, sodass sie beginnen zu leuchten wie zwei bunte Sterne. Sie hatte vor, ihm Pudding zu machen. Die harten Worte von Menowin verfallen zu Staub, als sich die Hoffnung in ihm regt.

Kim greift nach der Einkaufsliste und macht sich auf den Weg. Während sie weg ist, schneidet er das vorhandene Gemüse und bereitet alles zum Kochen vor.

Eine Stunde später sitzen sie beide im Schneidersitz auf dem Boden am Holztisch und kratzen das letzte bisschen Essen aus ihren tiefen Tellern.

„Das war sehr lecker", lobt ihn Kim und Leano grinst sie an. Ein dämlicher Fehler. Seine Kopfschmerzen hatten während des Kochens begonnen und lassen ihn jedes Mal aufs neue unbedacht werden.

Kim erstarrt mitten in der Bewegung, ihr Blick auf die angedeuteten Reißzähne in seinem Kiefer gerichtet. Schnell presst Leano seine Lippen aufeinander. Mit einem Sprung ist sie auf den Beinen.

Mit einem irren Blick schaut sie auf Leano hinab. Ihre Lippen bewegen sich, doch sie gibt keinen Laut von sich. Dann beginnt sie zu kreischen. Leano presst sich die Hände auf die Ohren und kneift die Augen zusammen. Es hilft nichts. Kims nächste Worte sind wie ein glühendes Brenneisen auf seiner Haut. „Du bist nicht mein Sohn", keift sie und nochmal: „Du bist nicht mein Sohn!"

Er würde weinen, würde er seine Augenlider nicht fest zusammenpressen. Das Herz springt ihm fast aus der Brust. In seinem Hals sitzt ein Kloß und er kann die Angst nicht runter schlucken.

Das Zerbrechen von Porzellan, keuchender Atem, dann - Ruhe. Erst als ihm warmer Atem ins Gesicht schlägt, öffnet er vorsichtig seine Augen. Sein Blickfeld ist gefüllt mit einer Farbe: Himmelblau. Kims Augen strahlen vor Hass und Spucke spritzt ihm ins Gesicht, als sie ein Wort bellt: „Hund!"

Katzenminze und Wolfsbeeren Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt