Jamie Scott-King steht mit in den Seiten gestemmten Händen auf der Veranda und blickt sich mit einem grimmigen Blick um. Zusammen mit dem Rudel springt Leano aus dem Dickicht und rennt auf ihn zu. Als Jamie Scott-King Leano entdeckt macht er einen Schritt zurück und die Arme fallen schlaff an seinem Körper hinab. Zwar kennt er die Wolfsgestalt Leanos, doch hat er ihn noch nicht oft so gesehen. Wahrscheinlich können die Mensch-Wolf-Begegnungen zwischen ihnen an einer Hand abgezählt werden und das, wo sie sich seit zwei Jahren kennen.
Mitten in seinen flüssigen Bewegungen metamorphosiert Leano zurück. Während in der einen Sekunde ein riesiger Wolf den Garten durchquert, rennt im nächsten Augenblick ein kleiner Teenager auf Jamie Scott-King zu.
Mit einem Kopfschütteln reißt er sich zusammen und betrachtet Leano stirnrunzelnd. „Es ist bereits neun." Mehr sagt er nicht sondern dreht sich um und geht ins Haus. Die Verandatür lässt er offen.
Seufzend folgt Leano ihm. Über den Eingang auf der Veranda gelangt man in das Wohn- und Esszimmer des einstöckigen Hauses. Die Möbel sind allesamt aus Holz und verbreiten eine angenehme Atmosphäre von Geborgenheit. Überall stehen und hängen eingerahmte Bilder. Auf den meisten sind Jamie Scott-Kings Frau und ihre zwei Kinder abgelichtet.
Auf dem Tisch steht ein inzwischen kaltes Frühstück. Ein schlechtes Gewissen breitet sich in Leano aus, als er das Omlett und den gebratenen Speck sieht. Normalerweise gibt sich Jamie Scott-King nicht besonders viel Mühe für Mahlzeiten. In seinen Vorratsschränken findet sich größtenteils Dosenfutter wieder. Er steht in der angrenzenden Küche, die mit dem Wohnzimmer durch eine offenstehende Tür verbunden ist. „Es tut mir leid, ich habe mein Zeitgefühl komplett verloren."
Er sieht nicht auf. „Iss."
Und Leano isst.
Bis er fertig ist und sein Geschirr in der Spüle abwäscht, wurde kein weiteres Wort gesprochen. Jamie Scott-King dreht sich zu Leano. Auf seiner fleckigen alten Haut bilden sich tiefe Falten und er mustert Leano abschätzig. „Es ist Schule." Da keine Reaktion auf seine Worte folgt, fügt er hinzu: „Warum bist du hier mitten in der Nacht aufgetaucht?"
Das ist zuvor noch nicht passiert. Kim hat seit längerem nicht mehr solch eine extreme Reaktion gezeigt. Leanos Brust beginnt zu schmerzen. Hoffnung ist eine zweischneidige Klinge und die Grausamkeit lebt in dem Schatten, den sie wirft.
„Tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, dir Sorgen zu bereiten", weicht Leano aus. Normalerweise ruft Leano an, bevor er Jamie Scott-King besuchen geht. In der Regel schlägt er nicht plötzlich unangemeldet mitten in der Nacht auf.
Jamie Scott-King grunzt mürrisch. „Ich mache mir keine Sorgen. Du hast mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, da darf ich wohl eine Erklärung verlangen."
„Wie du sagtest, ich bin lange nicht mehr zu Besuch gekommen, da hat mich plötzlich die Sehnsucht gepackt." Leano grinst und zuckt mit den Schultern.
Jamie Scott-King glaubt ihm kein einziges Wort, das ist ihm ins Gesicht geschrieben, doch ihm ist bewusst, dass er von Leano keine wahrheitsgemäße Antwort erhalten wird.
„Weiß deine Mutter, dass du hier bist?" Leano nickt, obwohl er es hasst, ihn anzulügen. „Ich fahre dich nach Hause, damit du deine Schulsachen holen kannst. Du bist zu spät, aber Unterricht ist Unterricht."
Zwar würde Leano viel lieber in dem Haus am Waldrand bleiben, er wusste jedoch, dass Jamie Scott-King Recht hat. Er hätte gar nicht erst schwänzen dürfen. „Danke."
„Los jetzt."
Zusammen treten sie aus dem Haus. Die Wölfe kommen um das Haus gesprintet und springen um sie herum wie kleine Rehkitze mit scharfen Reißzähnen. Leano hebt sein Fahrrad auf die Ladefläche des Trucks. Dann wendet er sich den Wölfen zu und krault jedem zum Abschied sein Ohr. „Ich komme bald wieder, also macht dem Alten sein Leben nicht allzu schwer."
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Katzenminze und Wolfsbeeren
FantasíaAls Hybrid gehört Leano Tosci weder zu den Menschen noch zu den Therianthropen. Er hat mit seinem Dasein als Außenseiter seinen Frieden gemacht. Doch in einer Welt, in der Therianthropen unterdrückt werden, ist es kein Leichtes zu leben, selbst als...