Höllenqualen

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Jamie Scott-King steht bereits wartend vor der Tür, als der Polizeiwagen um die Ecke und den unbefestigten Weg hinauf zu seiner Hütte fährt. Zum Schutz gegen den Abendwind trägt er eine Schiebermütze mit Ohrenklappen und seine Hände hat er in den Jackentaschen vergraben. Obwohl die Winter hier nicht so kalt werden und mittlerweile die Sonne den größten Teil eines Tages dominiert, ist der Frühling noch nicht ganz angekommen.

Eigentlich hätte Leano erwartet, dass er jeden Moment von den Beinen gerissen wird und es überrascht ihn, dass der kräftige Wind dem Alten kein bisschen zuzusetzen scheint. Wie ein Fels steht er vor der Tür. Der Wagen rollt aus und hält hinter Jamie Scott-Kings rostigen Truck. Die Polizistin steigt aus und kommt zu Leano herum, damit sie ihm helfen kann. Leano nimmt einen tiefen Atemzug. Klare Luft füllt seine Lungen und für einen Augenblick ist der Schmerz ein wenig erträglicher.

Als plötzlich Jamie Scott-King vor den Beiden steht, zuckt nicht nur die Polizistin erschrocken zusammen. Leanos Ohren sind unzuverlässig, alle seine Sinne überfordert. Während sein Gehirn normalerweise unwichtige und nebensächliche Geräusche, Bewegungen und Gerüche von alleine ignoriert, aussortiert und verwirft, schlägt nun alles auf ihn nieder. In seinem Kopf herrscht das reinste Chaos.

„Was ist passiert?" Die Stimme grollt wie ein Gewitter in den Bergen.

Leano antwortet nicht, denn wie aus dem Nichts kommt ein Wolfsrudel angeschossen. Naim heult glücklich auf. Ihre beigefarbenes Fell leuchtet fast wie die Glut eines Feuers in der Dämmerung. Vier der Wölfe sind kurz davor sich auf Leano zu schmeißen, innerlich bereitet er sich auf schreckliche Schmerzen vor, doch dann ertönt ein drohendes Knurren. Ein schwarzer Blitz schießt hervor und baut sich vor Leano auf. Vollkommen perplex kommen die Wölfe schlitternd zum Stehen. Wie Obsidian glänzt das wunderschöne Fell der Leitwölfin. Luanji hat den Kopf gesenkt und das Maul drohend geöffnet. Ihre Augen fixieren ihre Familie. Als sicher ist, dass keines der vier Rudelmitglieder auch nur einen Muskel rühren wird, bevor nicht klar ist, was Luanji so aufbringt, glättet sich ihr gesträubtes Fell und sie wirft einen prüfenden Blick nach hinten zu Leano. Ihre Ohren sind aufgerichtet und sie winselt leise. Da verstehen auch die anderen und all ihr Übermut verfliegt. Vorsichtig trippeln sie näher. Sie recken ihre Nasen schnuppernd in die Luft und pressen dann ihre Schnauzen gegen seine Beine.

Die Vier ignorieren die Polizistin komplett, nur Luanji setzt sich zu den Füßen von Jamie Scott-King und behält den Eindringling im Blick. Als Leano neben sich sieht, versucht die Polizistin ihre Überraschung und ihr Unwohlsein hinter einem Lächeln zu verbergen. Jamie Scott-King räuspert sich. Mit einem Stirnrunzeln bedenkt er die Polizistin, als müsse er überlegen, ob er seine Schrotflinte aus dem Schlafzimmer holen sollte.

Leano deutet auf die Polizistin. „Sie erklärt es dir." Dank Balduin, der bereitwillig seinen Kopf als Stütze anbietet, kann Leano von der Polizistin ablassen.
Jamie Scott-King mustert ihn kritisch. „Geh ins Haus." Kurz schweifen seine trüben Augen über die Wölfe. Er seufzt. „Nimm die Biester mit. Ich nehme deine Sachen und komme nach."

Leano wendet sich an die Polizistin. Sie knetet ihre Hände und erwidert Leanos Blick unsicher. „Hier wohnt ein Freund von dir?", fragt sie leise und zögerlich. Leano überlegt. „Nein. Aber hier wohnt Jamie Scott-King."

Sie wirft einen Seitenblick auf den Alten. Mürrisch erwidert er den Blick. Die Falten verziehen sein Gesicht zu einer unfreundlichen Grimasse.
„Oh", macht sie. Es ist deutlich zu erkennen, dass sie ihn nicht gehen lassen will. Leano nimmt es ihr nicht übel; den Alten umgibt eine düstere Ausstrahlung, obwohl Leano der Meinung ist, dass seine Schiebermütze ihn lächerlich wirken lässt. Besonders diese Ohrenklappen. An einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit hätte er ihn ausgelacht.

„Danke, Frau West." Leano wendet sich zum Gehen, wird aber aufgehalten.
„Eine Sekunde noch", verlangt die Polizistin. Sie schleicht vorsichtig um die Wölfe herum zum Wagen und durchsucht ihr Handschuhfach. Triumphierend streckt sie ihre Hand aus der Tür. „Ich hab's", erklärt sie und nun lugt auch ihr Kopf lächelnd hervor. Sie steht auf und überreicht Leano eine Visitenkarte. „Falls du irgendwann einmal Hilfe brauchst oder in Schwierigkeiten steckst, ruf mich einfach an. Clarissa vertraut dir, also tue ich es auch."

Katzenminze und Wolfsbeeren Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt