Die Welt leuchtet. So fühlt es sich auf jeden Fall für Leano an. Er versucht, nicht darauf zu achten, wie die Sonne auf ihn hinab lächelt. Wolken gesponnen aus weißen zarten Fäden zieren den Azurhimmel. Ein Goldammer stößt ein lautes ti-ti-ti-ti-tüüüh aus und obwohl der Gesang schrill ist, verbreitet das sich irgendwo in den Ästen eines Baumes versteckende gelbe Vögelchen ein warmes Frühlingsgefühl. Das Grün der Bäume ist saftig und das Grau der Straße farbenfroh, beinahe als würde jemand mit einem Pinsel Kleckse aus Licht auf die Erde malen. Alles scheint von innen heraus zu leuchten.
Leano atmet tief durch - seit langer Zeit wieder. Es scheint eine Last von seinen Schultern gehoben worden zu sein, zumindest für einen schönen, kurzen Augenblick. Er ist ruhig, der Kopfschmerz ganz, ganz leise.
Gemeinsam mit Menowin sitzt er an der Ziegelsteinmauer der Schule gelehnt auf dem Bürgersteig. Zwar sitzen sie nahe genug beieinander, um die Körperwärme des jeweils anderen zu spüren, aber sie berühren sich nicht. So verharren sie bereits seit geraumer Zeit. Leise vernimmt er das gleichmäßige beinahe hypnotische Ticken seiner Armbanduhr.
Leano hat Kim informiert, dass er später nach Hause kommt, damit sie sich keine Sorgen macht, aber er erinnert sich nicht mehr daran, was genau er ihr geschrieben hat. Die letzten Stunden sind nur noch eine vernebelte Erinnerung. Das einzige, was ihm glasklar bewusst ist, ist der Duft der seine Sinne verführt.
Leano hat die Augen geschlossen. Das Motorenbrummen vorbeifahrender Autos wird zu dem sanften Rauschen von Meereswellen. Wenn er die Hände über den Bürgersteig streichen lässt und kleine Steine unter seinen Fingern dahin rollen, ist es, als würde sich rauer Sand gegen seinen Handflächen drücken. Er kann es riechen, die sanfte Meeresbrise, den salzigen Geruch des Ozeans, der sich ins Unendliche bis über den Horizont hinaus ergießt. Menowin und Leano haben kaum ein Dutzend Worte in der letzten Stunde gesprochen. Während Menowin den wärmenden Sonnenschein genießt und dahindämmert, ist Leano vollkommen eingenommen von dem natürlichen Parfüm Menowins. Er rätselt darüber, was es ist, was seinen Geruch so vielschichtig und einzigartig macht. Es ist immer derselbe Duft und zugleich assoziiert Leano ständig neue Eindrücke damit.
Leano öffnet seine Augen und blickt neben sich. „Ich würde dich fragen, an was du denkst, aber du siehst so aus, als würde nichts als Luft in deinem Kopf schweben." Es ist ein schönes Kompliment. Hoffentlich versteht Menowin es.
Menowin öffnet seine Augen nur einen Spalt und dreht seinen Kopf nur ein kleines Stück, um Leano unter gesenkten Lidern anzusehen. Eine Libelle, die wie ein Streifen Regenbogen glänzt und glitzert, schwirrt zwischen den beiden herum und lässt sich dann gedankenlos auf Menowins Haar nieder. Es macht ihm nichts aus.
„Ich habe mich gefragt, wie ich es schaffen könnte, Licht einzufangen." Sein Blick huscht über die Straße und taxiert das Gefunkel in den Fensterfronten der gegenüberliegenden Geschäfte. Bei seiner leichten Kopfbewegung schreckt die bunte Libelle auf und rauscht mit einem beleidigten Surren davon. „Die Sonne bricht sich in dem Glas wie auf Meerwasser an einem klaren windstillen Sommertag. Ich denke, ich würde gerne Licht angeln gehen."
Er redet einfach vor sich hin mit einem verträumten Gesichtsausdruck und obwohl er die Worte so sorglos ausspricht - oder vielleicht auch gerade deswegen - gehen sie Leano durch Mark und Bein.
Menowin wendet sich Leano zu und öffnet seine Augen ein wenig weiter. „Was genau bedeutet es, befreundet zu sein?" Die beiden starren sich an. Leano weiß keine Antwort auf die plötzliche Frage. Er hatte noch nie einen Freund. Er hatte Verbündete, aber Freundschaft kennt er nicht. Loyalität, Treue, Aufopferung. Diese Begriffe sind ihm nicht fremd, aber sie beruhen nicht zwingend auf Gegenseitigkeit. Das musste er schmerzvoll lernen.
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Katzenminze und Wolfsbeeren
FantasyAls Hybrid gehört Leano Tosci weder zu den Menschen noch zu den Therianthropen. Er hat mit seinem Dasein als Außenseiter seinen Frieden gemacht. Doch in einer Welt, in der Therianthropen unterdrückt werden, ist es kein Leichtes zu leben, selbst als...