Wolfsgeheul

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Es ist fast Mitternacht als Leano von seinem Fahrrad steigt und es an die Fassade des alten Hauses lehnt. Der Himmel ist schwarz und von Wolken bedeckt, sodass weder Sterne noch Mond zu erkennen sind. Er atmet schwer. Er ist den ganzen Weg von der Innenstadt bis zum Waldrand gerast. Noch immer pumpt das Adrenalin durch seine Adern.

Mit beiden Händen stützt er sich an der Hauswand ab und versucht seinen Atem und seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Kim hat immer weiter geschrien, sie hat nicht aufgehört mit Sachen nach ihm zu werfen. Also hat er sich in sein Zimmer eingeschlossen und gehofft, ihn nicht mehr zu sehen, würde sie wie sonst auch beruhigen. Aber es ist eine der schlimmen Male gewesen. Sie hat gegen seine Tür gehämmert und ihn beschimpft. Schwindel packt ihn. Er stolpert und fällt auf den Boden. Die Erinnerungen sind wie Felsbrocken, die seine Brust zerquetschen.

Die Erde kühlt seinen verschwitzten Rücken und er schließt die Augen. Tief atmet er ein und stößt die Luft in einem leisen Heulen aus. Der Ton lässt die Luft um ihn herum Wellen schlagen. Der Tag ist so wundervoll gewesen, hat so gut angefangen. Sie hat versucht, ihm Pudding zu machen. Ein tiefsitzender Schmerz fährt ihm durch all seine Glieder. Wieso musste er nur diesen Fehler begehen und ihr seine Reißzähne zeigen?

Anders als bei den reinblütigen Therianthropen ist es ihm nicht möglich, vollkommen menschlich auszusehen. Seine menschlichen Zähne werden immer an Reißzähne erinnern. Seine Fingernägel sind steinhart und spitz wie Krallen und wenn er sie schneidet, sind sie am Tag darauf wieder nachgewachsen. Es ist ein Fluch.

Leano bemerkt das Wolfsrudel erst als es über ihn herfällt. Die schlanken Jäger werfen sich übermütig auf ihn, lecken ihm übers Gesicht und trippeln um ihn herum.

Unter großem Aufwand richtet er sich wieder auf und kommt auf die Beine. Die fünf Vierbeiner springen an ihm hoch und rempeln sich gegenseitig weg, während sie einen Höllenlärm veranstalten. „Ist gut", haucht er schwach. Er schiebt die Tatzen von sich und stützt sich mit einer Hand an der Wand ab, um nicht wieder auf dem Boden zu landen.

„Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Du bist lange nicht mehr gekommen. Du glaubst nicht, wie anstrengend die Biester ohne dich werden." Jamie Scott-King steht in der Haustür und blickt mit einem Stirnrunzeln auf die Wölfe hinab.

Er ist alt, wie alt genau weiß Leano nicht, doch von sich selbst behauptet er immer, dass selbst der erste Weltkrieg ihn nicht unterkriegen konnte. Auch wenn das unmöglich ist, kann Leano manchmal nicht umhin, dem Alten zu glauben. Mit den tiefen Falten und der schlaffen Haut wirkt er wie ein jahrhundertealter Mann. Im Gegensatz zu seinen vor Lebenskraft strotzenden Augen scheint sein Körper fast auseinander zu brechen sollte auch nur ein Windstoß ihn erfassen.

„Die Decke liegt im Schrank in der Garage. Morgen kannst du mir erklären, warum du hier mitten in der Nacht aufschlägst. Ich brauche meinen Schlaf." Damit dreht sich Jamie Scott-King um und schlägt die Tür hinter sich zu. An Leanos Lippen zupft ein winziges, liebevolles Lächeln.

Dann geht er um das Haus herum. Hinter dem Haus erstreckt sich ein großes Grundstück. Auf der Wiese wachsen Apfelbäume und nach hundert Metern zeigen Bäume und Sträucher die Grenze zum Wald auf. Es ist zwar dunkel, doch kann Leano alles in klaren Grau- und Schwarztönen erkennen. Links vom Haus steht eine Garage mit einer weitläufigen Überdachung. Darauf steuert er zu und die Wölfe traben ihm hinterher.

Die Tür zur Garage ist offen. Wie Jamie Scott-King sagte, befindet sich die Decke noch immer im Schrank. Für einen Moment hält er inne. Erschöpfung und Angst klammern sich fest an sein Herz und er kann sie nicht abschütteln.
Mit zitternden Händen nimmt er sich die Decke und geht wieder raus. Die Wölfe begrüßen ihn erneut, als hätten sie ihn jahrelang nicht gesehen. „Jetzt hört doch endlich auf." Er legt sich auf den Boden und wie auf Kommando drapieren sich die Wölfe auf und um ihn herum.

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