Es gab ein Polizeirevier nahe der Stadtmitte. Dort in der Gegend war es belebt genug, damit immer etwas zu tun war, aber nicht so betriebsam, dass niemand je zur Ruhe kam.
Genau gegenüber vom Revier stand eine kleine Mauer. Sie war beschmiert und hässlich. Dahinter lag ein nicht ganz so beschmierter und hässlicher Spielplatz. Über die Mauer ragten die Äste einer Trauerweide. Flossen hinab bis kurz über den Boden, wie der Saum eines Kleides strichen sie über den Gehweg und wogen im Wind hin und her, als würde sie sich zu einer schwermütigen Melodie bewegen.Und da unter der Trauerweide saß ein Junge auf der Mauer.
Niemand hat ihn kommen sehen; er war auf einmal einfach da. Fast wie von den Wolken hinunter gefallen - oder geschwebt. Er war allein. Weit und breit keine Mutter, kein Vater. Auch keine Freunde, wobei Kinder in seinem Alter draußen auf der Straße zumeist in Gruppen anzutreffen waren. Er war schon älter, doch ließ er die Beine baumeln wie ein Fünfjähriger und sein Kopf hing hinab, sodass nur ein dreckiger Haarschopf zu erkennen war.
Er könnte schon Stunden da sitzen, ohne das es einer einzigen Person aufgefallen wäre. Jeder ging an ihm vorbei. Er war ein bleicher Geist inmitten von reger Lebendigkeit.
Allein, weil ein Windstoß die Haare des Jungen aufwirbelte und diese wie schmutzige Eiszapfen in der Sonne funkelten, bemerkte die kleine Polizistengruppe den Jungen.
Ein blonder Mann deutete mit einem Stirnrunzeln im Gesicht und einer Zigarette in der Hand auf die andere Straßenseite.
„Sitzt der Bursche schon die ganze Zeit da?"Seine Kollegen wanden sich um und auch auf ihren Gesichtern zeigte sich der Ausdruck von Überraschung.
„Nein", sagte einer mit einer großen Nase.
„Eben noch saß da keiner", stimmte auch ein Polizist zu, der dicke Koteletten und buschige Augenbrauen und kleine Augen besaß, sodass sein Gesicht mehr borstiges Haar als Haut war.„ Aber da hat sich niemand hingesetzt. Das hätte ich gesehen", meinte der Blonde.
„Also saß er doch bereits da", schlussfolgerte ein kleiner kleiner Mann.
„Nein", sagte Dicknase und die Kotelette stimmte wieder zu: „Tat er nicht."„Ist doch egal", ergriff erneut der Liliputaner das Wort, „Die Frage ist, was er hier tut."
„Er sieht irgendwie verloren aus." Der Blonde neigte den Kopf und musterte den Jungen.
„Nein", sagte Dicknase. Auch Kotelette schüttelt den Kopf, als könne er diese Aussage keineswegs nachvollziehen. „Tut er nicht. Er sieht aus wie Ärger. Oder wie ein Problem. Vielleicht auch wie Zeitverschwendung."
„Lasst und rübergehen und nachfragen" Der Liliputaner stemmte seine Hände in die Hüften.
„Ihr Beiden geht wieder rein. Die Pause ist vorbei", befahl der Blonde der Dicknase und Kotelette und warf den Zigarettenstummel in den Aschenbecher.
In dem Moment, wo der Blonde und der Liliputaner die Straße überquerten, fuhr der Kopf des Jungen hoch und er starrte den beiden ungeniert entgegen. Dem Blonden rollte ein Schauer den Rücken hinunter. Das Gesicht des Jungen war voller Schmerz. Er senkte wieder den Blick auf seinen Schoß und baumelte weiter mit seinen Beinen.
Als sie vor ihm standen, musterten sie den Jungen. Er war klein. Seine Glieder waren lang und dünn. Er war bestimmt um die elf. Er trug gute Kleidung, eine Jeans ohne Löcher und ein langärmeliges Hemd. Die Haare waren nicht dreckig, wie sie zuerst angenommen hatten, sondern besaßen verschiedenfarbige Strähnen und Schattierungen.
„Hallo, Kleiner."
Keine Reaktion.„Geht es dir gut?"
Er verschränkte die Arme und hielt seine Beine still.„Wartest du auf jemanden?"
Er zuckte mit den Schultern.„Wie heißt du denn?"
„Leano." Die Stimme war piepsig, die eines kleinen Kindes, doch schwang in ihr ein undefinierbarer Unterton mit. Die Polizisten wechselten einen Blick.„Was machst du hier?"
Er antwortete nicht.„Wie alt bist du, Leano?"
„Hundertundeins." Er hob seinen Blick und blinzelte. Seine Augen blickten bis auf die tiefsten Tiefen der Seelen der Polizisten. Ihnen blieb der Atem weg. Diese Augen waren so alt und kalt wie das Meer. Eines besaß die Farbe des Himmels und eines die Farbe der Erde. Er sah aus wie aus zwei Welten. Hätte sich kein ironisches Grinsen auf seinen schmalen Lippen ausgebreitet, hätten sie seine Aussage trotz der unverkennbaren Lüge geglaubt.Der Blonde musste den Blick abwenden, wie sein Partner auch. Durch zusammengepresste Zähne wiederholte er seine Frage: „Wie alt bist du, Junge?"
Der Junge schniefte. „Fünfzehn."
Fünfzehn?
Vorsichtig musterten die Polizisten den kleinen gertenschlanken Körper. Dann runzelten sie die Stirn, doch beließen es dabei.Dem Jungen entfuhr ein Seufzer, so tief und enttäuscht und einsam, wie die Polizisten noch nie zuvor jemanden Seufzen hatten hören. Vielleicht war er doch hundertundeins. Irgendwie wäre dieser Umstand einfacher zu glauben, als die absurde Zahl fünfzehn. Der Blonde schüttelte den Kopf. Was dachte er da nur?
„Lasst uns hineingehen. Ihr müsst meine Mutter finden, schließlich denkt sie, ich wäre tot."
Geschmeidig glitt er von der Mauer und mit ineinander fließenden Bewegungen schritt er ohne zu Zögern über die Straße auf das Revier zu - blickte weder nach links noch nach rechts und passte doch den perfekten Moment ab, um entspannt die dicht befahrene Straße zu überqueren.
Für einen Moment blickte er gen Himmel. Seine strahlenden Augen wurden dunkel, ganz ganz dunkel und er knurrte so leise, dass nur der Wind und er selbst es hörten.
Komm zurück, dachte er.Aber nichts passierte.
Komm zurück, flehte er stumm.
Natürlich nicht.Dann bricht er vor Schmerz auf der Straße zusammen. Das ist nicht richtig. Es ist nicht die Straße. Alt und schmerzvoll brennt die Erinnerung durch sein Gedächtnis. Ein Bad in Flammen, die sich hungrig um ihn winden. Heiß, heiß, heiß. Tränen strömen ihm über das Gesicht. Irgendwo in der Ferne hört er jemanden seinen Namen rufen. Kühle Finger ziehen Bahnen über seine Wangen, sein Kinn, seinen Hals. Doch sie sind nicht mehr als ein Tropfen Wasser auf einem heißen Stein. Er will antworten, dass will er wirklich, aber im nächsten Moment verschluckt ihn die nächste Erinnerung.
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Katzenminze und Wolfsbeeren
FantasyAls Hybrid gehört Leano Tosci weder zu den Menschen noch zu den Therianthropen. Er hat mit seinem Dasein als Außenseiter seinen Frieden gemacht. Doch in einer Welt, in der Therianthropen unterdrückt werden, ist es kein Leichtes zu leben, selbst als...