Mutterliebe

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Kim ist da.

Leano steht bereits eine Weile vor der geschlossen Tür. Seine Hand hält den Schlüssel fest in der Hand, während sein Körper halb zur Flucht die Treppen hinunter bereit steht.

Er will sie nicht sehen. Er will nicht den Hass in ihren Augen sehen. Und noch weniger will er eine ihrer sanften Berührungen spüren und einen Blick auf ihr liebevolles Lächeln werfen, denn nur ein kleiner Fehler, ein Wort, eine unbedachte Bewegung, und das schöne Gesicht seiner Mutter verzieht sich zu einer Fratze der Abscheu.

Kims Handy klingelt. Leano dreht etwas seinen Kopf. Sie wirft die Zeitung auf den Couchtisch, springt auf die Beine und nimmt ungewöhnlich hastig den Anruf an. „Doktor Drew! Guten Abend."

„Hallo, Frau Tosci", kommt es rauschend aus dem Handy und Leano tritt etwas näher an die Tür. Er konzentriert sich. Das Wohnhaus ist voller Geräusche. Der alleinstehende Herr Walsh direkt nebenan steht unter der Dusche und singt einen Hit von Amy Winehouse, während die liebe, alte Frau Murphy mal wieder mit ihren Porzellanpüppchen spricht, was Leano immer ein wenig ausflippen lässt, wenn er es mitbekommt. Er blendet die Nebengeräusche aus und die Laute aus seiner Wohnung werden deutlicher.

Doktor Drew ist die Ärztin von Kim. Jeden Dienstag- und Donnerstagvormittag besucht sie die Psychologin, weshalb Leano nicht versteht, warum die beiden nun telefonieren. Sie haben sich erst vor ein paar Stunden gesehen. Kim spricht nie über ihre Behandlung und Leano hat Doktor Drew erst zweimal getroffen. Beide Male wurde er in ihre Praxis bestellt. Das erste Mal zu einer gemeinsamen Therapie mit seiner Mutter, was ein totaler Griff ins Klo war und mit fliegenden Stiften endete. Das zweite Mal wollte sie sich alleine mit ihm unterhalten. Das Gespräch war schrecklich unangenehm, aber Leano hat all ihre Fragen ehrlich beantwortet. Zumindest jene, die sein Zusammenleben mit Kim betrafen. Er hat ihr seine Sicht der Dinge dargelegt und jede weitere Einladung danach abgelehnt. Gab es etwas Wichtiges für ihn zu wissen, rief sie ihn an und entweder rang er sich dann ein kurzes Gespräch ab oder er ließ sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.

Doktor Drew meint es gut und seit Kim bei ihr in Behandlung ist, hat sich ihr Zustand gebessert. Größtenteils wachsen diese Fortschritte allerdings auf Leanos Zurückhaltung. Vor Doktor Drew war Leanos Leben bei Kim ein einziges Versteckspiel. Er verstand sie nicht und wusste nicht, mit ihr umzugehen. Er weiß nicht genau, wie das psychische Leiden von Kim genannt wird, aber es fand Ausdruck in plötzlichen Stimmungsschwankungen, heftigen Gefühlsausbrüchen und öfters auch aggressivem Verhalten. In dem einen Moment hielt sie ihn in einer fürsorglichen Umarmung und in der anderen versuchte sie, ihn zu zerquetschen. Seitdem versucht er, so wenig Körperkontakt wie möglich zu ihr zu haben. Gleichzeitig sehnt er sich jedoch nach ihrer mütterlichen Behutsamkeit - so gefährlich sie auch sein mag.

Schließlich als Doktor Drew vor zwei Jahren Zeuge der angriffslustigen Behandlung von Kim gegenüber Leano wurde, legte sie Leano gewisse Verhaltensregeln auf. Sie waren einfach und wirksam.
Kein Lächeln mit Zähnen.
Lass sie deine Hände nicht sehen - oder nur so wenig wie möglich.
Und mit der Zeit kamen einige Anpassungen hinzu:
Iss kein Fleisch in ihrer Anwesenheit.
Rede nur von menschlichen Freunden.
Therianthropen sind ein Tabuthema.
Hört keine Nachrichten gemeinsam.
Und sobald Leano diese Vorschläge befolgte wurde sein Leben friedlicher und anstrengender zugleich.

Doktor Drew weist ihn bei jedem Gespräch darauf hin, sich nicht zu sehr darauf zu versteifen. Er soll sie nur soweit befolgen, dass seine körperliche Sicherheit gewährleistet ist, während sie versucht, Kims Trigger zu finden und zu entschärfen. Dieser Prozess ist jedoch langwierig und Kim alles andere als eine einfache Patientin. Sie ist auch nicht immer kooperativ. Im ersten Moment wollte Doktor Drew ihn von Kim trennen, doch konnte er sie glücklicherweise vom Gegenteil überzeugen. Doktor Drew ist zu gutmütig und lässt sich schnell mit einem Hundeblick überzeugen. Zum Glück beherrscht er diesen Gesichtsausdruck wie kein anderer.

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