Second

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„Ach verdammt", fluchte Cedric Lahey schon zum dritten Mal an diesem Morgen. Hektisch suchte er seinen Schreibtisch nach den Unterlagen ab, welche Jon Creasy, der Leiter dieser Polizeidienststelle, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, ihm vor einer Woche hatte zukommen lassen, doch so sehr er auch suchte, in diesem Chaos aus Papier und nutzlosem Wisch konnte er genauso gut nach der Nadel im Heuhaufen suchen. Er raufte sich fluchend die aschblonden Haare. Nichts lief mehr, seit sein ehemaliger Hilfssheriff ganz plötzlich gekündigt und Josephina Hill verlassen hatte. Er hatte alle Hände zu tun mit Kleinverbrechern, und der ganze Papierkram machte ihn wahnsinnig. Wohin er auch sah, Formulare stapelten sich Zentimeter hoch auf seinem Schreibtisch und wo auch immer Platz in seinem Haus war. Der meiste Kram lag überall im Erdgeschoss verteilt, im Büro, im Archiv, sogar in der Küche. Er war jeden Tag todmüde, weil er bis tief in die Nacht wach war und versuchte, all diesen Wisch auszufüllen, abzuschicken und zu sortieren.
Als Creasy vor einer Woche seine Anfrage auf einen Hilfssheriff angenommen hatte, war er so erleichtert gewesen, dass er beschlossen hatte, den ganzen Papierkram stehen zu lassen, bis der Kollege kam. Dies hatte sich als falsche Entscheidung herausgestellt, denn mittlerweile ertrank er in Büroarbeit.
Der Kollege, den Creasy ihm hergeschickt hatte, war, soweit er sich erinnerte, vor einigen Wochen angeschossen worden und aus einem Koma erwacht, woraufhin er ins Büro verdammt wurde. Zum Glück Cedric's, denn er war seine Rettung aus diesem Meer aus Papier.
Ein lautes Klingeln ließ ihn aufschrecken. Fluchend griff er unter einen Stapel Akten und hob den Hörer seines alten Telefons mit Wählscheibe ans Ohr.
„Guten Tag, Cedric Lahey hier, Sheriff Josephina Hill's. Was kann ich für Sie tun?", rasselte er gezwungen freundlich herunter.
„Mr. Lahey, Sie müssen dringend vorbeikommen und diesen Streit in der St. Anna Schule schlichten", meinte eine aufgebrachte Frau am anderen Ende. Im Hintergrund waren laute Stimmen zu hören.
Cedric runzelte die Stirn. Warum rief sie denn ausgerechnet ihn an? „Es tut mir leid, Ma'am, ich habe gleich einen sehr wichtigen Termin. Bitte wenden Sie sich an die Polizeidienststelle, die Nummer ist–"
„Da habe ich bereits angerufen", unterbrach ihn die Frau. „Die Polizei hat gerade alle Hände voll zu tun und hat mich zu Ihnen weitergeleitet. Wir können den Streit nicht alleine schlichten, die Jungen sind zu sechst und prügeln sich noch tot, wenn Sie nicht kommen!"
„Gut, ich bin in wenigen Minuten da", brummte Cedric genervt und legte ohne weiteres auf. Er wischte sich mit den Händen übers Gesicht und sog einen Schwall Luft ein. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, nahm seine Jacke vom Haken neben der Tür und trat aus dem Haus. Seine Stiefel trommelten über das Kopfsteinpflaster, während er in seine Jacke schlüpfte und den Weg zur weiterführenden Schule des Dorfes einschlug.
Wenn sein Kollege ankam, musste der wohl oder übel auf ihn warten.

~

Die Karte führte Allan zu einer Straße, die durch einen dunklen Wald führte. Er musste die Lichter einschalten und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad. Sein Auto tuckerte langsam vor sich hin, und je näher er dem Dorf kam, desto nervöser wurde er, und seine Gedanken drehten sich um hunderte Sorgen.
War er überhaupt gut aufgehoben in so einem kleinen Dorf? Er war aus guten Gründen in eine Großstadt gezogen. Und würde er sich im Büro gut anstellen? Würden er und der Sheriff sich gut verstehen? Ein gutes Verhältnis war wichtig im Kampf gegen Verbrecher.
Allan seufzte auf. Seine Finger spielten fahrig mit der Haarsträhne in seiner Stirn. Er durfte sich einfach nicht so verrückt machen. Es würde schon alles gut laufen. Er hatte Erfahrung, seine Tabletten und er war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, und sogar auf andere.
Dennoch...
Dieses seltsame Gefühl schien einfach nicht zu schwinden.

Der Waldweg mündete an einer kleinen Lichtung und gab den Blick frei auf eine kleine Straße, die gerade mal breit genug für ein Auto war. Dahinter wartete ein alter Torbogen aus Stein, auf dem die Worte Josephina Hill eingehauen waren. Allan legte aufgeregt die andere Hand aufs Lenkrad und fuhr hindurch.
Seine Augen erblickten hunderte große, alte Häuser, viele umrankt von Kletterpflanzen, welche einen Ring um einen großen Marktplatz im vorderen Teil des Dorfes bildeten.
Allan beschloss, den Oldtimer vorerst nahe des Torbogens neben einigen anderen Autos zu parken. Er stellte den Motor ab, und die Musik verklang. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, und sein nervöses Ich blinzelte ihn unsicher an. Er atmete tief durch.
Bloß die Nerven behalten. Du schaffst das schon.
Allan nahm seine Schlüssel und die Tasche mit seinen wichtigsten Sachen, dann stieg er aus. Frische Landluft schlug ihm entgegen, die Sonne blendete ihn, und ein leises Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Er hängte sich den ledernen Riemen seiner Tasche über die Schulter und schlug die Fahrertür zu. Schnell schloss er die Tür ab, und dann drehte er sich herum.
Gemächlich schritt Allan über unebenes Kopfsteinpflaster und beobachtete das ruhige Treiben des Landlebens. Einige Leute liefen über den Platz, eine Katze trabte mit königlich erhobenem Kopf über den Rand eines Springbrunnens in der Mitte, hier und da spielten kleine Kinder, und Allan war sich sicher, dass er schon viel zu lange frei vom Stadtlärm gewesen war.
Das Haus des Sheriffs befand sich gut sichtbar direkt gegenüber des Torbogens auf der anderen Seite des Platzes. Über der Tür hing ein Schild mit den Worten Sheriff Department Josephina Hill's. Allan war froh, dass er sich wenigstens nicht durchfragen musste, um dorthin zu gelangen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war gerade erst kurz nach zwölf, er lag also noch gut in der Zeit.
Langsam näherte er sich dem mehrstöckigen Haus des Sheriffs. Die Fassade war blassgelb gestrichen, die Türen und Fensterläden dunkelbraun, und die Schrift auf dem gleichfarbigen Schild dunkelrot. Ein kleines Treppchen führte zur Tür hinauf, und als er hinaufstieg, um zu klingeln, fiel ihm das kleine Schild mit dem Namen des Hausinhabers auf, und das Blut gefror ihm in den Adern.
Cedric Lahey.

~

Entnervt begleitete Cedric zwei der Streithähne aus der Schule hinaus zu einem der Streifenwagen der Polizei. Nachdem auch er kaum Ruhe ins Haus hatte bringen können, hatten er und zwei kräftigere Lehrer die sich prügelnden halbstarken Jungen auseinander ziehen und Verstärkung rufen müssen. Ihm war noch immer nicht recht klar, worum genau es in diesem Streit gegangen war, doch die grün und blau geschlagenen Gesichter der Kinder sprachen von wenig Mitleid.
Zwei grimmig aussehende Polizisten nahmen die Jungen entgegen und steckten sie in den Wagen.
„Heute ist wirklich mehr los als sonst", knurrte einer der beiden missmutig.
Cedric nickte ernst. „Hoffen wir, dass der Rest des Tages ruhiger verlaufen wird."
Der Polizist grunzte zustimmend und klopfte Cedric beiläufig auf die Schulter. Cedric schaute ihm kurz hinterher, dann hockte er sich vor die offene Hintertür des Wagens und blickte die beiden Jungen darin an. „Ich hoffe, ihr werdet hieraus lernen", sagte er streng. Das wütende Funkeln ihrer Augen beeindruckte ihn wenig. „Was auch immer euer Ziel mit diesem Aufstand war, wenn ich euch nochmal erwische, wird es mit Sicherheit weniger angenehmer ausgehen. Ihr beide könnt froh sein, dass ihr noch nicht strafmündig seid, im Gegensatz zu euren Kollegen."
„Die hatten es verdient", fauchte der kleinere der Jungen. Er war vielleicht noch dreizehn, doch Cedric enttäuschte der Hass in seinen hellen Augen.
„Das können die Kollegen von der Polizei ja mit euch klären", meinte er. „Und eure Eltern. Spaßig wird das Verfahren allerdings eher nicht."
Die Jungen wandten sich stumm ab und blickten stur auf die Sitze vor ihnen. Cedric richtete sich auf und schlug die Tür zu. Der zweite Polizist tippte sich förmlich an den Hut und stieg dann zu den Jungen ins Auto. Cedric blickte ihnen noch hinterher, dann seufzte er auf und machte sich eiligen Schrittes auf zu seinem Haus. Immerhin hatte er bereits alle wichtigen Daten aufgenommen und war hier fertig. Er schaute auf seine Uhr, und die Zeiger näherten sich bereits der eins. Der Kollege musste schon längst da sein, wenn er pünktlich war.
„Ach verdammt." Grimmig stopfte er die Hände in die Hosentaschen. So hatte er diesen Tag definitiv nicht geplant.
Eher gesagt, er hatte diesen Tag überhaupt nicht durchgeplant. In den letzten Wochen war er so durcheinander gewesen, dass er kaum etwas mehr auf die Reihe bekommen hatte. Irgendein seltsames Gefühl hatte ihn heimgesucht, und somit hatte er viel Zeit mit Sorgen und mehr Kaffee als üblich verbracht. Sein Schlaf war geprägt von Träumen der Vergangenheit, und so sehr er es auch versucht hatte, er war ihnen nicht entkommen.
Cedric schob diese innere Unruhe auf all den Stress, der aufgekommen war, seit Lucas, sein ehemaliger Kollege, ihn mit all der Arbeit alleingelassen hatte.
Dass die Unruhe allerdings ganz woanders herkam, konnte er nicht ahnen.

Schnellen Schrittes lief Cedric durch eine Gasse, die zur Straße zum Marktplatz führte, doch seine schweren Stiefel machten kaum Geräusche auf dem uneben Pflaster. Er nickte einem Bauern freundlich zu, als dieser an ihm vorbeiging. Dann wollte er um die Ecke biegen, doch stattdessen stolperte er beinahe über seine eigenen Füße und blieb stocksteif stehen, eine Hand an einer Hauswand abgestützt, und starrte mit aufgerissenen Augen zu seinem Haus.
Der Mann, der dort in Sheriffuniform stand und sich geistesabwesend durch die dunklen Haare fuhr, musste Allan Dearing sein.
Allan... Cedrics Herz raste unkontrolliert im Schock, und er trat hastig zurück in die Gasse.
Verdammt... hatte Creasy ihm tatsächlich Allan hergeschickt? Allan, seinen alten Freund aus Kindertagen, mehr als das, Allan Dearing, den Freund, den er früher verloren hatte als er erwartet hatte.
Allan, den Menschen, der ihn noch immer wahnsinnig machte.
Allan, an den er in der letzten Zeit öfter gedacht hatte als gut für ihn gewesen war.
Er warf einen Blick zurück zu seinem Haus. Verdammt nochmal, er war es, er musste es sein, diese Haltung, die Angewohnheit, sich durch die Haare zu streichen, die dunklen Augen, die in seine Richtung blickten...
Fluchend versteckte Cedric sich wieder hinter der Hauswand. Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, seine Emotionen im Griff zu behalten. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, und in ihm kochten Gefühle auf, die er schon vor langer Zeit tief in seinem Inneren verschlossen hatte.
Was sollte er denn nun tun? Er konnte doch nicht mit Allan zusammen arbeiten... nicht nach allem, was passiert war. Nicht nach all den Jahren, all der Verzweiflung, all der Trauer.
Zitternd ließ er die Hände sinken und schaute verzweifelt in den Himmel hinauf, als könne er dort eine Lösung für dieses Problem finden.
Doch natürlich fand er dort keine.
Cedric schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Leider musste er diesen Wink des Schicksals annehmen, ob er wollte, oder nicht.
Er wusste nur noch nicht, ob es dieses Mal gut ausgehen würde oder nicht.
Er blickte zu Boden, und seine hellblauen Augen füllten sich mit Tränen.
Wahrscheinlich würde er abermals verlieren, was ihm vor langer Zeit so viel gegeben hatte, und er wusste nicht, ob er es dieses Mal verkraften würde.

Nur du zählst...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt