Eighth

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„Grams? Bist du da?"
„Ich bin im Wohnzimmer, Schätzchen!"
Cedric schloss die Wohnungstür seiner Großmutter und schlich durch den den Flur, den sie mit den wenigen alten Kinderfotos seiner Familie, die existierten, verziert hatte. Er streckte den Kopf durch die Tür zu seiner linken und erblickte Rosa Lahey auf ihrem geblümten Sofa sitzend.
Stricknadeln klackerten leise, und Rosa strahlte ihn an. „Komm rein, mein Schatz!", rief sie. „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Hast du Hunger, soll ich dir etwas kochen?"
Cedric lachte leise und trat langsam in ihr Wohnzimmer. Überall standen Blumen, Bücher und Porzellanfiguren herum. „Immer mit der Ruhe, Grams", erwiderte er.
„Ich möchte doch wissen, wie es meinem geliebten Enkel geht", erwiderte Rosa empört, konnte sich das Lächeln aber nicht verkneifen. „Komm her, Cedric."
Cedric sich einen Weg vorbei an einem Sessel und einem Couchtisch zu Rosa. Er beugte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Rosa stieß einen fröhlichen Laut aus, packte seine Wangen und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf die Stirn.
Cedric lächelte sanft. Er liebte sie einfach.
„Also, wie geht es dir, Schatz?", fragte Rosa noch einmal. Ihre grau-blauen Augen musterten ihn genau.
Er seufzte. „Hast du ein bisschen Zeit zum Reden?", fragte er leise.
Rosa schmunzelte amüsiert. „Normalerweise bin ich diejenige, die dich um Zeit bitten muss", meinte sie.
Cedric lächelte traurig. Rosa blickte ihn besorgt an und hob die Hand, um seine Wange zu streicheln. Dann legte sie ihre Stricksachen weg und klopfte neben sich aufs Sofa. „Komm, setz dich", sagte sie, „und dann erzählst du mir, was los ist."
„Danke." Cedric nahm neben ihr Platz. Rosa packte ihn an den Schultern und zog ihn zu sich. Er ließ es geschehen und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß. Das hatte er schon eine Weile nicht mehr getan, doch er merkte, wie gut es ihm tat.

„Cedric, bist du etwa schon wieder gewachsen?", gluckste Rosa. „Deine Füße ragen ja schon über das Sofa hinaus."
Er lachte auf. „Ich bin 34, Grams. Ich wachse nicht mehr."
Rosa rieb lachend über seine Brust. Cedric genoss den Klang ihrer Stimme. Er hatte sie vermisst. „Tut mir leid, Schätzchen, ich werde langsam senil."
Cedric griff nach ihrer Hand. „Sag das nicht, Grams", wisperte er bestürzt.
Rosa blickte zu ihm hinab und drückte seine Hand kräftig. „Ich scherze, Schätzchen", sagte sie ernst. „Aber nun sag, was bedrückt dich? Ist es wieder die Arbeit?"
Cedric seufzte tief und dachte an die letzten Stunden. „Auch", erwiderte er traurig. „Aber nicht nur das."
„Was denn nun?" Beruhigend strich Rosa ihm übers Haar.
Allans Anblick schlich sich wieder in seine Gedanken, und er schloss die Augen, in der Hoffnung, nicht gleich loszuheulen. „Grams, erinnerst du dich daran, dass ich einen neuen Hilfssheriff angefordert habe?", fragte er leise.
„Und, hast du den bekommen?", wollte Rosa neugierig wissen.
„Ja", seufzte Cedric. 
„Ist er nicht nett?"
Er lachte auf. Ganz im Gegenteil. „Doch, das ist er..."
Rosa rieb wieder beruhigend über seine Brust. „Wo ist denn dann das Problem, Schatz?"
Cedric schlug die Augen auf. Ihre Blicke trafen sich. „Erinnerst du dich an Al?", fragte er, „Allan Dearing?"

„Al?", wiederholte Rosa verwirrt. „Meinst du deinen Freund von damals? Der, den du immer beschützen musstest?"
„Genau den", wisperte Cedric und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. Er spürte Tränen der Verzweiflung in seinen Augen aufsteigen und blinzelte mehrmals, doch es half alles nichts. Etliche Erinnerungen an ihren damaligen gemeinsamen Kampf drängten sich in ihm hoch.
„Ist er nicht vor langer Zeit verschwunden?", fragte Rosa nachdenklich.
„Das ist er", seufzte Cedric müde. „Und ich dachte, ich würde ihn niemals wiederfinden..."
Rosa musterte ihn eingehend. „Du hast ihn die ganze Zeit gesucht, richtig? Ich wusste, dass du ihn vermisst, aber ich wusste nicht, dass es dich auch heute noch verfolgt."
Cedric lachte freudlos. „Natürlich habe ich ihn gesucht. Und ich habe ihn gefunden..."
„Oh, aber ist das nicht großartig?", sagte Rosa überrascht.
Er seufzte, blinzelte ein paar Tränen weg. „Ich glaube, ich muss ein wenig weiter ausholen", murmelte er.
„Ich bin ganz Ohr", beteuerte Rosa mit einem aufmunternden Lächeln.
Cedric stockte, seine Kehle war trocken, es fiel ihm sichtlich schwer, über diese dunklen Erinnerungen zu sprechen, doch er musste es tun. „Weißt du noch, als Allan verschwunden ist, als er 14 war? Damals dachte ich, es sei das letzte mal gewesen, dass ich ihn sah. Und dann kam er zwei Jahre später mitten in der Nacht zurück. Er stand einfach vor unserer Tür."
„Ich erinnere mich", sagte Rosa leise, „was genau ist damals passiert? Ihr wolltet nicht darüber sprechen."
„Er ist vor seinem Vater weggelaufen, denke ich", erwiderte Cedric vage. „So genau weiß ich es auch nicht. Er sagte nur, dass er nicht lange bleiben könne, bevor er erneut spurlos verschwand. Aber... was ich eigentlich sagen will ist, ich war in ihn verliebt. Mein ganzes Leben schon. Und er hat mich auch geliebt, Grams... und das war einer der Gründe, weshalb sein Vater uns voneinander fern halten wollte."
Rosa seufzte betrübt. „Ich weiß, Schätzchen. Ich habe euch doch gesehen, schließlich habe ich euch beide großgezogen." Sie schmunzelte leicht. „Es war kaum zu übersehen, wie sehr ihr euch mochtet."
„Also hast du kein Problem damit, dass ich schwul bin?", fragte Cedric, noch immer zweifelnd.
„Um Himmels Willen, nein! Cedric, Schatz, du bist mein Lieblingsenkel", rief Rosa und drückte seine Hand fest.
Cedric lachte betrübt. „Ich bin dein einziger Enkel", erwiderte er.
„Das macht überhaupt keinen Unterschied", winkte Rosa ab. „Warum sollte ich ein Problem damit haben, wenn du deinen alten Freund liebst? Liebe ist Liebe! Es zählt nicht, ob man schwul oder lesbisch oder sonst etwas ist! Allein die Gefühle zählen. Da gibt es keine Probleme!"
„Leider gibt es die schon", erwiderte Cedric wehmütig.
„Du hast ja recht", sagte Rosa und schnaubte wütend. „Aber nun sag, warum erzählst du mir das alles? Ist nicht alles wieder gut, wenn du ihn wiedergefunden hast?"
„Ich glaube, er erinnert sich nicht an mich", entgegnete Cedric niedergeschlagen. „Das heißt, er liebt mich nicht mehr. Doch ich glaube, ich empfinde immer noch etwas für ihn. Und nun ist er mein Hilfssheriff..."
„Woher willst du das denn wissen? Hast du ihn gefragt?", fragte Rosa skeptisch.
„Nein, natürlich nicht", stammelte Cedric verdattert. „Was würde er auch denken? Ich weiß gar nicht, ob er einen Partner hat. Und er weiß nicht einmal, dass wir Freunde waren..." Ein scharfes Stechen fuhr durch seine Brust und schien alte Wunden, die nie verheilt waren, tiefer aufreißen zu wollen. Er schloss die Augen und fühlte den Tränenstrom weiter fließen.

„Cedric, du kennst Allan lange genug, um zu wissen, dass er kaum jemanden an sich ranlässt", erwiderte Rosa streng. „Wahrscheinlich traut er sich nicht, es dir zu sagen. Du weißt, dass ihr unzertrennlich wart. Siebzehn Jahre werden doch nicht genug sein, um solch tiefgehende Erinnerungen auszuwischen."
Cedric dachte an Allans Blicke, die er ihm zugeworfen hatte. Wie er ihn förmlich angestarrt hatte, rot angelaufen war. Sein schüchternes Lächeln und der Moment, als sie sich heute Morgen in seinem Zimmer angeschaut hatten. Er dachte daran, wie er kaum mehr den Blick von Allan hatte reißen können und wie er sich selbst gescholten hatte, als er sich ausgemalt hatte, wie es wohl wäre, Allan zärtlich an sich zu ziehen und seine Haut auf seiner zu spüren.
Er schluckte schwer. „Ich weiß nicht...", murmelte er zögerlich.
„Schätzchen, er erinnert sich bestimmt noch sehr gut an dich", behauptete Rosa lächelnd. „Hilf seinem Gedächtnis einfach ein wenig auf die Sprünge. So wie mir manchmal."
Cedric verzog das Gesicht. „Ich denke trotzdem nicht, dass er noch immer dasselbe fühlt", sagte er heiser. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in den Händen. Er merkte, dass er zitterte, und Grams rieb noch immer beruhigend über seine Brust. Ihre liebevolle Berührung war das einzige, das ihn davon abhielt, den Verstand zu verlieren.
„Schätzchen, dann sorgst du eben dafür, dass er dasselbe fühlt."
„Was?" Cedric ließ die Hände sinken und blickte sie verdattert an.
Rosa lächelte verschmitzt. „Ich bin mir sicher, dass du sein Herz mit deinem Charme für dich gewinnen kannst", erklärte sie. Sie zwinkerte ihm zu. „Versuch es einfach, Cedric. So starke Gefühle verblassen nicht einfach."
„Aber wenn es nicht funktioniert, wird es mir das Herz brechen", maulte Cedric. „Ich verkrafte es nicht noch einmal, ihn zu verlieren!"
„Schätzchen, du hast ihn nicht verloren", raunte Rosa eindringlich. „Allan ist hier. Du kannst dafür sorgen, dass er sich wieder an dich erinnert und seine Gefühle für dich wieder auferwecken."
Verzweifelt blickte er sie an. „Aber wie soll ich das bloß anstellen?"
„Zeig es ihm", meinte Rosa. „Das hat dein Großvater ebenfalls getan. Er hat mir seine Liebe bewiesen und mir gezeigt, wie viel ich ihm bedeute. Genau das musst du tun. Zeig ihm, dass du ihn liebst. Die kleinsten Zeichen können bereits Wunder bewirken."
„Ich werde es versuchen", meinte Cedric unsicher. Vor seinem inneren Auge sah er Allans sommersprossiges, vollkommenes Gesicht und seine dunklen Augen, die ihn nach all den Jahren noch immer gnadenlos in ihren Bann zogen.
Grams hatte recht.
Er würde alles für Allan Dearing tun.

Nur du zählst...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt