Herbstlaubtrittvergnügen

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Ich richte den dunkelgrauen, weichen Schal um meinen Hals und ziehe mein orangefarbenes Notizbuch aus meiner Tasche.
Oktober ist orange.
Wie jeden Tag sitze ich pünktlich um drei Uhr nachmittags auf der gleichen Bank im Park und beobachte das Treiben hier. Es beruhigt mich.
Ich blättere zur Seite des heutigen Tages und notiere die Dinge, die mir auffallen. Das Notieren beruhigt mich auch. Es gibt mir Sicherheit, meine Gedanken ablegen zu können.

Mein Therapeut, Dr. Cooke, hat mir vor vierzehn Monaten dazu geraten, meine Gedanken in Notizbüchern festzuhalten. Ich schätze, es ermöglicht ihm, einen Einblick in meinen Kopf zu bekommen, auch wenn er dort nicht viel finden wird. Ich finde mich kaum selbst darin zurecht.

Ich mag Ordnung. Und Konstanz. Chaos beunruhigt mich und dann machen sich alle Sorgen. Wenn alle besorgt sind, beunruhigt mich das auch.

Da ist die alte Frau mit dem dunkelgrünen Mantel. Den Mantel trägt sie erst seit einer Woche. Davor war es noch milder und sie trug eine hellblaue Steppjacke, mit der sie sehr zwischen den bunten Blättern hervorstach.
Sie geht jeden Tag mit ihrem Yorkshire Terrier hier spazieren. Sie hebt seine Hinterlassenschaften nur mit einem kleinen Beutel auf, wenn sie sich beobachtet fühlt. Sie fühlt sich nicht oft beobachtet. Die meiste Zeit bleiben die braunen Häufchen auf dem Rasen liegen.

Eine Joggerin, etwa in meinem Alter, läuft an mir vorbei. Sie trägt eine enge schwarze Laufhose, eine pinkfarbene Jacke und hat weiße Kopfhörer in ihren Ohren. Sie sieht mich länger an als notwendig und mir ist klar, dass sie mein Äußeres wohl recht ansprechend findet. Ich sehe weg. Ihr Äußeres spricht mich nicht an. Ich interessiere mich nicht für Menschen. Ich beobachte gern.

Der Himmel ist hellgrau. Man kann keine einzelnen Wolken erkennen, aber zumindest regnet oder nieselt es nicht. Die Blätter, die auf den Wegen liegen, sind zu einem einzigen braunen Matsch verklumpt.
Unter einem der Ahornbäume harkt ein Mitarbeiter der Stadt die herabgefallenen, noch bunten Blätter zu einem großen Haufen zusammen. Er trägt eine grüne Arbeitslatzhose und darüber eine leuchtend orange Weste. Mögen die Angestellten es wohl, so auffallend gekleidet zu sein? Sie werden vielleicht keine Wahl haben.

All diese Dinge schreibe ich in mein orangefarbenes Oktoberheft. Ich sehe auf die Uhr an meinem linken Handgelenk. Das Armband ist aus weichem, hellbraunen Leder und das Ziffernblatt ist weiß. Die Zeiger sagen mir, dass es bereits zwölf Minuten vor vier ist. Ich habe noch siebenundzwanzig Minuten bis ich mich auf den Weg zu meiner Schwester mache.

Ein rundlicher Mann mit Glatze und einem beigefarbenen Trenchcoat eilt geschäftig an mir vorbei. An seinen geputzten schwarzen Lederschuhen klebt der braune Blättermatsch.
Ein lauter Schrei lässt mich hochschrecken. Normalerweise schreien nicht viele Menschen in diesem Park. Manchmal spielende Kinder, aber die gibt es mehr im Sommer und an einem trüben Tag wie heute sieht man selten Kinder.

Der ungewohnte Schrei kam aus der Richtung des Blätterhaufens und bei genauerem Hinsehen erkenne ich einen jungen Mann, etwa in meinem Alter, der laut jubelnd durch eben diesen Haufen hindurchstapft und springt und die ganzen Blätter, die der Mann in der orangefarbenen Weste eben noch so sorgfältig zusammengekehrt hat, verteilen sich auf dem Rasen. Der Mann mit der orangefarbenen Weste scheint schon gegangen zu sein, denn ich sehe ihn nicht.

Der Mann, der durch den Blätterhaufen springt, trägt einen schwarzen langen Mantel und viele klirrende Ketten um seinen Hals. Seine schwarzen Haare stehen mit Hilfe von Haargel steil
zu Spitzen nach oben, seine Augen sind auffällig dunkel geschminkt und er lacht aus Leibeskräften. Warum?

Zu meinem Entsetzen nimmt er nun einen Haufen Blätter zwischen seine Hände und wirft diese in die Luft über sich. Die orangefarbenen, roten, gelben und braunen Blätter regnen praktisch um ihn herum, landen auf seinen Schultern und seinem Kopf und er lacht und schreit vor Freude.

Ich bin verwirrt. In aller Regel bin ich nicht Zeuge von solch unerwartetem Verhalten. Wie wild schreibe ich meine Beobachtungen in mein orangefarbenes Notizbuch.
„Ist das nicht toll?", fragt eine atemlose Stimme.
Langsam und vorsichtig hebe ich meinen Kopf und sehe den jungen Mann vor mir stehen. Seine Brust hebt und senkt sich schnell und ein breites Lächeln ziert sein schönes Gesicht.
Sein Mund ist umrandet von kleinen, feinen, schwarzen Barthaaren und seine braunen Augen leuchten mich an.

„Entschuldigung, was?", frage ich verwirrt. Ich werde nicht angesprochen. Menschen meiden mich.
„Ist das nicht toll?", fragt er nochmal und hält mir ein Blatt vor die Nase. „Riech doch mal."
Angewidert ziehe ich meinen Kopf zurück.
„Nein!"
„Aber es riecht nach.. nach.."
Ich hebe eine Augenbraue.
„Herbst?", schlage ich vor, denn so nenne ich diesen Geruch in meinem Kopf.

„Ja, genau", lacht er. „Es riecht nach Herbst. So riecht Herbst!"
Ich weiß nicht, was ich erwidern soll, aber unsere Begegnung und die Tatsache, dass er mit mir spricht, bringen mich durcheinander und ich beginne wieder, in mein Notizbuch zu schreiben.
„Was schreibst du da?", will er wissen und setzt sich ungefragt neben mich.
Meine Augenbraue wandert erneut nach oben und ich blicke ihn skeptisch von der Seite an.
„Sachen", antworte ich knapp.

„Was für Sachen?"
„Beobachtungen."
„Und was hast du beobachtet?"
„Entschuldigung, aber fragen Sie immer so viel?", frage ich ihn nun. Er schaut mich kurz verblüfft an, dann schüttelt er lachend den Kopf und hält mir seine Hand hin.
„Oh, bitte entschuldige. Ich bin Henry", sagt er strahlend. „Und ja, ich frage immer so viel."
Ich sehe zweifelnd auf seine Hand, an der kleine, feuchte Dreckreste von den Blättern kleben.
Bevor ich mich wehren kann, nimmt er meine Hand und schüttelt sie.

„Es tut mir leid, ich bin nur so aufgeregt", plappert er weiter. „Ich bin gerade aus Phoenix, Arizona hierhergezogen und ich habe noch nie richtiges Laub gesehen oder.. oder Herbst."
„Aha", mache ich und starre auf unsere Hände. Meine ist sauber und warm, seine kalt und feucht. Das Gefühl ist ungewöhnlich, aber nicht unangenehm.
„Weißt du, wie man das nennt?"
„Herbst?"
„Nein", lacht Henry. „Ich meine das, was ich gerade gemacht habe. In dem Blätterhaufen."
„Chaos?"
Er sieht mich entgeistert an und schüttelt lachend den Kopf.

„Herbstlaubtrittvergnügen. Ist das nicht eins der schönsten Worte, das du je gehört hast?"
Ich überlege kurz. Tatsächlich habe ich dieses Wort noch nie gehört. Es klingt interessant und wirklich irgendwie schön.
Ich schreibe es oben auf die Seite in meinem Buch.
„Siehst du, du hast es aufgeschrieben. Ich liebe schöne Worte", erklärt Henry, obwohl ich keine Frage gestellt habe.

„Weißt du, was noch schöner ist?"
Fragend sehe ich ihn an, denn ich befürchte, es ist ziemlich egal, was ich auf seine Frage antworte, er wird mir die Antwort doch gleich sagen.
„Es tun."
„Was?"
„Herbstlaubtrittvergnügen. Komm mit", sagt er vergnügt und greift meine Hand.
Moment, was?
„Nein!", rufe ich und versuche, mich seinem Griff zu entziehen.
Verwundert sieht er mich an.
„Warum nicht?"
„Weil wir alles durcheinanderbringen."
„Na und?"
Nun schaue ich verwundert. Wieso will er das?

„Also, ich gehe nochmal", ruft er freudig, lässt meine Hand los und springt erneut mit Begeisterung in den Blätterhaufen. Ich beobachte ihn still und verwirrt und denke nur...

Herbstlaubtrittvergnügen.

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