Meraki

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Ich schreibe und schreibe und versuche, alle Gedanken, die ich hatte, seit das rauchblaue Novemberbuch voll war, irgendwie in das neue, ultramarinblaue Novemberbuch zu übertragen. Ich habe das letzte Wort erst gestern in das rauchblaue Notizbuch geschrieben, aber in der Zwischenzeit ist so viel passiert und ich will nichts vergessen.

Henry sitzt lächelnd neben mir auf dem violetten Samtsofa in dem kleinen Café und beobachtet mich. Er sagt nichts und seltsamerweise macht es mich nicht nervös, wenn er mich einfach nur anschaut. Bei Henry ist vieles anders. Er scheint sämtliche Dinge, die mir zuwider sind, umzukehren.

Ich trage wieder meinen senfgelben Pullover, denn ich weiß, dass er ihn mag und ich möchte, dass Henry mich mag. Ab und zu streicht er liebevoll über den Stoff an meinem Arm oder Rücken und wenn ich dann aufschaue, glitzern seine brauen Augen mich an und die goldenen Flecken darin sind ganz hell.

„Was hältst du davon, mich gleich in mein Atelier zu begleiten, Maxwell?", schlägt Henry schließlich vor. Ich lege meinen Stift neben meinem neuen Notizbuch ab und sehe ihn überrascht an. Henry trinkt gerade von seinem Latte Macchiato und ich beobachte gebannt, wie seine rosa Zunge weißen Milchschaum von seiner Oberlippe leckt.
„Nur, wenn du magst, natürlich. Oder wir machen das ein anderes Mal. Wir können auch einfach hier bleiben oder-", plappert er weiter, doch ich unterbreche ihn mit einem knappen: „Sehr gern."

Seine Augen strahlen mich an und er nickt freudig. Seine Finger streichen über meine Hand und verschränken sich mit meinen. Ich mag das Gefühl. Henrys Hand ist warm und weich und schmiegt sich perfekt an meine. Ich zögere kurz, denn genau diesen Gedanken würde ich gern aufschreiben, doch seine linke Hand hält meine Rechte und da ich Rechtshänder bin..
Wieder überrascht Henry mich, indem er aufsteht und mir bedeutet, mich auf seinen Platz zu setzen. Ich rutsche herüber und er setzt sich dorthin, wo ich bis eben noch saß, um dann einfach meine linke Hand zu nehmen.

„Besser?", fragt er mich grinsend.
„Woher wusstest du das?", frage ich ihn verwirrt. Er lacht wieder dieses verschmitzte Lachen, das ich so mag. Ich mag viel an Henry, fällt mir auf.
„Ich weiß nicht, ich hatte es einfach im Gefühl", antwortet er.
„Im Gefühl?"
„Ja, es ist nicht wie ein richtiger Gedanke. Eher wie ein Empfinden. Ich hatte das Gefühl, dass du schreiben möchtest, aber nicht kannst, weil ich deine Hand festhalte. War das so?"
„Ja, genau so war es", antworte ich ehrlich.
„Warum sagst du dann nichts?"
„Ich wollte nicht, dass du mich loslässt. Ich mag es, wenn du meine Hand hältst", erkläre ich leise.

Henry lächelt und nickt.
„Das mag ich auch. Weißt du, manchmal ist es furchtbar spannend, das zu tun, worauf man gerade Lust hat, ohne darüber nachzudenken, was passieren könnte oder was das Gegenüber denken könnte."
Ich schreibe wieder eifrig mit, aber der Gedanke beunruhigt mich dennoch. Was, wenn ich etwas tue, was Henry mich nicht mehr mögen lässt?
„Wollen wir dann?", fragt Henry und ich nicke.

Henrys Atelier befindet sich im Dachgeschoss eines alten Lagerhauses. Man kommt mit einem rostigen, ruckelnden Fahrstuhl dorthin und ich habe kurzzeitig Panik, als sich die Gittertür bei Henrys erstem Versuch nicht öffnen lässt.
„Die klemmt manchmal", entschuldigt er sich und ich schlucke schwer.

Das Atelier nimmt bestimmt die Hälfte der Etage ein und ist übersät mit Farbtöpfen, Leinwänden, Pinseln, Säcken mit Tonmischungen und allerlei anderen Kunstutensilien. An den Wänden hängen zahlreiche Zeichnungen, die meisten von ihnen abstrakt und sehr bunt.

Ich sehe mich interessiert um, während Henry in die kleine Küche geht, die zum Atelier gehören zu scheint und mir zuruft, ob ich etwas trinken möchte.
„Wasser", sage ich still und bleibe vor einem Bild stehen, das überwiegend in grau und blau gemalt ist. Der einzige Farbklecks dieses Bildes sind leuchtend gelbe Gummistiefel, die in eine graublaue Pfütze springen. Ich spüre, wie meine Lippen beginnen zu lächeln, denn am unteren Bildrand steht nur ‚hoppípolla'.

„Ah, du hast es entdeckt", sagt Henry und reicht mir ein großes Glas mit Wasser.
„Ich mag es", sage ich schlicht.
„Ich musste dabei an dich denken", erklärt er verlegen. „Ich habe mir vorgestellt, wie du mit gelben Gummistiefeln in eine Pfütze springst."
„Ich habe keine gelben Gummistiefel."

Ich gehe weiter und erblicke ein Bild von einer Hand mit langen, schlanken Fingern, die Seiten in einem Buch zu beschreiben scheint. Im Hintergrund sind unzählige bereits beschriebene Seiten zu erkennen und der Buchrücken, der nur an einer kleinen Stelle zu erkennen ist, ist rauchblau. Am unteren Bildrand steht ‚meraki'. Fragend runzele ich die Stirn.
Henry steht direkt hinter mir, ich spüre seinen warmen Atem an meinem Hals.

„Meraki ist griechisch und bedeutet so viel wie etwas mit Hingabe und Leidenschaft tun", murmelt er leise.
„Aber.. das sieht aus wie meine Hand", überlege ich laut.
„Da bin ich ja froh", kichert Henry. „Es sollte auch deine sein."
„Warum?"
„Weil du genau das verkörperst, wenn du in diese Bücher schreibst, Maxwell. Ich beobachte dich dabei und denke ‚das ist meraki'."
„Ich kenne mich nicht aus mit Hingabe und Leidenschaft", erkläre ich.
„Aber ich", flüstert Henry. „Und du schreibst so hingebungsvoll in diese Bücher. Als du heute ohne dein Buch auf dieser Bank gesessen hast, war es, als würde ein Teil von dir fehlen."

Ich nicke grübelnd.
„So fühlte es sich auch an."
„So geht es mir beim Malen. Ich liebe es, Dinge zu erschaffen, sie aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zu bringen", erzählt Henry und ich sehe das begeisterte Funkeln in seinen Augen.
„Darf ich dir dabei zusehen?", frage ich leise.
„Beim Malen?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich kann nebenbei auch schreiben."
Henry küsst sanft meine Wange.
„Sehr gern, Maxwell."

Geschäftig läuft er durch das Atelier und sucht allerlei Utensilien zusammen. Eine Staffelei, leere Leinwände, Farben, Pinsel. Ich stehe unbeholfen herum und versuche, ihm nicht im Weg zu sein. Henry zieht einen dunkelbraunen Sitzsack aus einer Ecke hervor und zeigt darauf.
„Setz dich", erklärt er und ich lasse mich unbeholfen darauf nieder.
Ich habe noch nie auf einem Sitzsack gesessen, also weiß ich nicht, wie ich mich darauf verhalten soll, doch das Möbelstück (nennt man einen Sitzsack überhaupt Möbelstück?) schmiegt sich angenehm an meinen Rücken und mein Hinterteil und ich entspanne mich augenblicklich.

Henry stellt sich hinter die Staffelei und lächelt dahinter hervor.
„Brauchst du noch was?", fragt er. Ich zucke mit den Schultern und er läuft schnell in die Küche. Kurz darauf stellt er die Wasserflasche neben dem Sitzsack ab und erklärt: „Wenn ich einmal anfange, höre ich so schnell nicht auf."
Damit platziert er sich wieder hinter der Leinwand und beginnt, sich an den Farbtöpfen zu schaffen zu machen.

Ich beobachte ihn still und schreibe hin und wieder Gedanken auf, die mir in den Sinn kommen. Henry blickt konzentriert auf seine Leinwand und schaut ab und zu zu mir herüber, aber ich habe das Gefühl, ohne mich richtig anzusehen. Sehe ich beim Schreiben auch so aus?

Plötzlich legt er seinen Pinsel zur Seite und streift sich seinen dunkelroten Pullover über den Kopf. Darunter trägt er nichts und ich starre gebannt auf seinen muskulösen Oberkörper. Ich starre auf seine honiggoldene Haut, seine dunklen Brustwarzen und das V seiner Hüften und frage mich, wie er sich wohl anfühlt. Mein Körper beginnt zu kribbeln und auf einmal macht sich ein Gefühl in mir breit, das ich im
Zusammenhang mit Henry schon einmal hatte.
Ich werde hart.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt