Ich öffne meiner Schwester die Tür und sie umarmt mich besorgt. Jennifer ist die Einzige, die mich ungefragt umarmen darf, ohne dass ich nervös werde. Wir setzen uns auf mein schwarzes Ledersofa und ich streiche immer wieder mit meiner Hand über meine weiche, graue Fleecedecke, weil ich daran denken muss, dass Henry sie vorhin noch in seinen Händen hatte.
„Wer war dieser Mann, Max?", fragt meine Schwester mich besorgt.
„Das war Henry."
„Woher kennst du ihn?"
„Aus dem Park."
„Einfach so? Weiß Dr. Cooke davon?"
Ich seufze.
„Ja, er weiß von Henry."
Ich erkenne Enttäuschung in Jennifers braunen Augen und seufze leise.Ich war als Kind schon immer etwas seltsam. Ich habe meine Spielsachen penibel nach Farben sortiert und die Farben dann noch einmal nach Formen. Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung. Meine Eltern konnten nie mit mir einkaufen gehen, weil ich wie am Spieß schrie, wenn sie mit mir einen Supermarkt betraten.
Jennifer ist zwei Jahre jünger als ich und war schon mein ganzes Leben lang die Einzige, die mich so nahm, wie ich bin. Die mich so versteht, wie ich bin, auch wenn sie selbst nicht so ist. Schon als Kleinkind nahm sie stets Rücksicht auf meine Gefühle und warnte meine Eltern vor, wenn ich nervös wurde.
Als ich mit neun zum ersten Mal zu einem Kinderpsychologen ging, musste Jennifer mich begleiten. Sie kennt jedes meiner Geheimnisse und ist neben Dr. Cooke die Einzige, die meine Notizbücher lesen darf, obwohl sie nur sehr selten davon Gebrauch macht. Jennifer weiß, dass ich ihr meine wichtigen Gedanken immer von allein anvertraue.
Mir wurde nie eine psychologische Krankheit diagnostiziert, es hieß immer ‚zwanghaft mit autistischen Zügen' und da unsere Eltern gut betucht sind, konnte ich dem immer nachgeben. Sie haben mein Apartment gekauft und überweisen mir monatlich genügend Geld, damit ich mein Leben sorglos bestreiten kann. In den Augen meiner Mutter habe ich genügend andere Sorgen und alles, was von mir verlangt wird, ist, dass ich einmal pro Woche mit Dr. Cooke spreche.
„Wo ist Henry jetzt?", fragt Jennifer mich und ich sehe, dass sie versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Ich zucke mit den Schultern und spüre den heißen Brocken wieder, denn ich kann ihre Frage nicht beantworten.
„Max?", Jennifer sieht besorgt aus.
„Er hat mich nicht geküsst", sage ich enttäuscht und blicke auf meine Hände, die zittrig auf meinen Knien ruhen.
„Was?"
„Als er ging", erkläre ich leise. „Hat er mich nicht geküsst."„Und wolltest du, dass er dich küsst?"
Ich nicke zögerlich und nun beginnt auch meine Unterlippe zu zittern.
„Er hat von Kilig gesprochen, aber er hat mich nicht geküsst."
„Max, ich verstehe das alles nicht. Soll ich Dr. Cooke anrufen?", fragt Jennifer nun leicht panisch.
Ich schüttele den Kopf.
„Nein, ich möchte nicht mit Dr. Cooke sprechen. Er hat gesagt, ich soll atmen."
„Aber atmen ist gut, Max."
„Er hat gesagt, ich soll beim Küssen atmen. Er hat nicht gesagt, dass ich dieses Kilig bekomme und dass ich traurig werde, wenn Henry mich nicht nochmal küsst", erzähle ich und stelle fest, dass ich wieder wie ein bockiger Fünfjähriger klinge.„Nochmal? Das heißt, er hat dich schon geküsst?"
„Dr. Cooke hat mich nicht geküsst."
„Okay, das weiß ich. Aber dieser Henry hat dich geküsst."
„Ja."
„Und du wolltest, dass er es nochmal tut."
„Ja. Ich mag das Kilig."
„Was ist Kilig?"
„Schmetterlinge im Bauch."
Jennifer nimmt liebevoll meine Hand und strahlt mich an.
„Brüderchen, du bist verliebt."
„Aber er ist ein Mann", sage ich.
„Und? Stört dich das?"
Ich überlege und schüttele den Kopf. Das Gegenteil ist der Fall.Jennifer umarmt mich und nimmt dann mein Gesicht in ihre Hände.
„Darf ich dein Novemberbuch lesen?", fragt sie mich strahlend. Ich schüttele den Kopf und sie runzelt die Stirn.
„Du musst im Oktober anfangen."•••
Mit schwitzigen Händen und einer Mischung aus Kilig und dem heißen Brocken in meiner Brust sitze ich nun seit zwanzig Minuten auf meiner Bank. Ich will in mein Novemberbuch schreiben, aber es ist voll und ich weiß nicht, ob ich mir ein Neues kaufen oder schon das Dezemberbuch anfangen soll. Außerdem sind meine Gedanken gerade so wirr in meinem Kopf, dass ich sie unmöglich niederschreiben könnte.
Also starre ich geradeaus und versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und die einzelnen Gedanken vorbeiziehen zu lassen. Jennifer, die mir sagt, dass ich verliebt bin. Henrys braune Augen mit den goldenen Flecken darin. Dr. Cooke, der mir sagt, ich solle atmen. Mein senfgelber Pullover. Käsekuchenkrümel in Henrys feinen Barthaaren. Henrys Lippen an-
„Boketto", reißt Henrys Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und da sitzt er neben mir, ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht.
„Henry."
„Soll ich gehen?", fragt er.
„Nein!"
„Du warst so abwesend. Auf japanisch heißt das Boketto. Man starrt in die Ferne und denkt an nichts Konkretes. Du hast mich nicht gesehen, darum konntest du auch nicht die Hand heben", plappert er, doch seine Augen betrachten mich vorsichtig.
„Ich möchte nicht, dass du gehst", sage ich ehrlich.
Er nickt und das Lächeln erreicht nun auch seine schönen Augen.Ich kann nicht lächeln. Ich bin noch immer enttäuscht über den Nicht-Kuss und der heiße Brocken dämpft mein Schmetterlingsgefühl.
„Was bedrückt dich, Maxwell?", fragt Henry, als könne er mich lesen wie ein Buch.
„Du hast mich nicht geküsst."
„Du meinst jetzt?"Mit Erschrecken fällt mir auf, dass er recht hat. Der Brocken wird noch größer und die Schmetterlinge sind nun still. Ich schaue nervös auf meine Hände, denn ich befürchte, dass ich gleich eine von ihnen heben werde, damit er geht. Aber ich will nicht, dass er geht. Ich will jedoch auch nicht, dass er bleibt, wenn er mich nicht küssen will. Angestrengt kneife ich meine Augen zusammen, denn ich bin in höchstem Maße verwirrt.
Plötzlich spüre ich Henrys Hand an meinem Kinn. „Maxwell", sagt er sanft. „Ich bin noch hier. Rede bitte mit mir. Das hatten wir doch besprochen. Du sagst, was los ist."
Ich atme tief durch, die Luft bringt den Brocken in meiner Brust zum Glühen und ich wimmere fast vor Schmerz.„Du hast mich nicht geküsst. Und ich wollte gern, dass du mich küsst. Und ich will nicht, dass du weggehst. Aber ich will auch nicht, dass du bleibst, wenn du mich nicht küssen willst", sprudelt es aus mir heraus.
Bevor ich weiterrede, legt Henry seine weichen Lippen auf meine und mir entkommt ein lautes, erleichtertes Seufzen.Augenblicklich verwandelt sich der Brocken in tausende kleine Kolibris, die zusammen mit den wieder aktiven Schmetterlingen wie wild durch meinen ganzen Körper strömen. Instinktiv öffne ich meinen Mund und als Henrys Zunge wieder gegen meine stupst, seufze ich erneut, denn mein Kopf ist erfüllt von einem weichen, süßen Nebel und ich bestehe nur noch aus Gefühl. Es ist wie Kilig und Boketto zusammen, nur in meinem Kopf.
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Wortliebe | ✓
Teen FictionMax mag Ordnung. Henry liebt das Leben und schöne Worte. Kann der Chaot den verschlossenen Einzelgänger aus seiner Nussschale locken? **Wattys 2020 Gewinner - Kategorie Young Adult** Hinweis: Erwachseneninhalt, für graphische Sprache und Beschreibu...