Misophonie

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Henry und ich betreten das kleine Café, das ich ihm genannt habe und er klatscht begeistert in die Hände.
„Das ist voll schön! Gehen wir dort hinten hin?", ruft er und läuft schon in die Richtung des braunen Tisches neben dem Kamin, in dem ein kleines orangegelbes Feuer knistert.
Hinter dem Tisch an der Wand steht ein Sofa, das mit einem violetten Samtstoff bezogen ist, davor steht ein kleiner Sessel mit dem gleichen Bezug.

Wie selbstverständlich lässt Henry sich auf das Sofa fallen und seufzt genießerisch. Ich hingegen bleibe zögerlich stehen.
„Was ist? Willst du dich nicht setzen?", fragt er mich.
„Ich kann nicht mit dem Rücken zum Raum sitzen.
Das beunruhigt mich", erkläre ich ruhig.
„Okay, dann setz dich doch neben mich", bietet er an und klopft auf die Sitzfläche des Samtsofas.

Verlegen ziehe ich meinen schwarzen Mantel aus und lege ihn über die Lehne des Sessels. Als ich ihn wieder ansehe, bemerke ich, dass Henry mich anstarrt.
„Wow", sagt er ehrfürchtig. „Ich wusste, dass dir die Farbe steht."
Ich spüre, wie meine Wangen warm werden und vermute, dass sie langsam erröten. Ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche und lege es vor mich auf den Tisch, während ich mich mit gebührendem Abstand neben Henry setze.

Henry selbst wirft seinen schwarzen Mantel achtlos zum Sessel, wo er nur zur Hälfte über der Armlehne hängenbleibt. Der Rest hängt auf den Boden. Ich stehe auf und lege seinen Mantel ordentlich neben meinem über die Lehne.
„Du magst Ordnung, oder?", fragt er mich neugierig. Ich nicke und will etwas antworten, doch vergesse die Antwort als ich ihn ansehe. Er trägt ein silbergraues Hemd und wieder diese vielen Ketten und es passt alles perfekt zusammen. Er auf diesem violetten Sofa, das Hemd, seine funkelnden Augen.

Ich greife nach meinem Buch und er sagt lachend: „Schreib nur, ich mag es dich dabei zu beobachten."
Meine Wangen werden wieder warm und ich schreibe hektisch, um meine Gedanken halbwegs zu sortieren.
„Hi", begrüßt uns die Kellnerin auf einmal. Sie trägt ein blaues Poloshirt und eine dieser schwarzen Kellnerschürzen. Ihre Haare bestehen aus lauter winzigen Löckchen, die wirr von ihrem Kopf abstehen.
„Wisst ihr schon, was ihr wollt?", fragt sie.

„Also, ich hätte gern einen großen Latte Macchiato
mit zwei Schuss Karamelsirup. Was habt ihr für Kuchen?", plappert Henry freundlich los, während ich unbeirrt schreibe.
„Käsekuchen, Schokobrownies und noch ein Stück Birne-Walnusskuchen", antwortet die Kellnerin.
„Dann gern ein großes Stück Käsekuchen."
„Und dein Freund?"
Ohne aufzuschauen murmele ich: „Kaffee. Schwarz. Keine Milch. Eine Tüte Zucker. Daneben. Nur eine Tüte. Wenn es keine Tüten gibt, kein Zucker."

Ich spüre ihren irritierten Blick, aber schaue nicht auf.
„Kuchen?", fragt sie, doch ich schüttele den Kopf.
„Ich mag ja lieber Würfel", erklärt Henry, nachdem sie weg ist.
Fragend schaue ich auf.
„Was?"
„Zucker. Ich mag lieber Würfel. Die kann man einfach so naschen."
„Die kann jeder einfach so anfassen", antworte ich.
„Daran ist noch niemand gestorben", kichert Henry.
„Zumindest nicht nachweislich", murmele ich.

„Verrätst du mir denn jetzt deinen Namen, Jennifers Bruder?", flüstert Henry plötzlich an meinem Ohr und ich zucke zusammen. Er kichert leise und entschuldigt sich, dass er mich nicht erschrecken wollte.
„Maxwell", sage ich, nachdem ich wieder gefasst bin. „Maxwell Foster."
„Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen, Maxwell Foster", sagt Henry feierlich und greift wieder ungefragt meine Hand.

Anders als beim letzten Mal fühlt sie sich heute warm und weich in meiner an.
„Mein Name ist Henry Page. Das schreibt sich P-A-G-E. Ich bin 1,80m groß, bin Sternzeichen Schütze und mag Katzen lieber als Hunde", erklärt er weiter und nickt leicht in die Richtung meines Buches, ein kleines Grinsen umspielt seine Lippen.
Vorsichtig ziehe ich meine Hand aus seiner und schreibe die eben genannten Informationen in mein Novemberbuch.

Die Kellnerin bringt unsere Bestellung und stellt zudem eine Suppenterrine auf dem Tisch neben uns ab, an dem ein älterer Herr sitzt und sich bei ihr bedankt.
„Und du?", fragt mich Henry Page, während er in seinem Kaffeegetränk rührt. Ich sehe zwei Tüten Zucker neben meiner Kaffeetasse liegen und schlucke schwer. Bevor ich mich versehe, hat Henry sich eine geschnappt und aufgerissen. Überrascht sehe ich zu, wie er sich den Zucker direkt auf seine pinkfarbene Zunge streut.

„Hmm", macht er. „Mit Stücken macht das eindeutig mehr Spaß."
Ich schüttele ungläubig den Kopf, bin ihm aber insgeheim dankbar, dass er die Tüte so rasch entgegengenommen hat. Ich reiße die zweite Tüte auf und streue die weißen Körnchen in meinen dunkelbraunen Kaffee. Als ich die dampfende Flüssigkeit mit dem kleinen silbernen Löffel umrühren möchte, erstarre ich.

Der Mann am Nebentisch hat begonnen, seine Suppe zu essen. Leider tut er dies alles andere als leise. Zunächst pustet er laut über den Löffel, dann schlürft er die Suppe von eben jenem und räuspert sich jedes Mal laut nach diesem Vorgang, bevor sich das Ganze wiederholt.
Ich bekomme peripher mit, dass Henry mit mir spricht, doch ich kann seine Worte nicht hören. Alles, was ich höre, ist das Schlürfen und Schmatzen und Räuspern des Mannes am Nebentisch und es macht mich wahnsinnig.

Angestrengt kneife ich meine Augen zusammen und balle meine Hände zu Fäusten.
„Maxwell? Ist alles okay?", fragt mich Henry und legt besorgt seine Hand auf meine Schulter.
Ich schüttele krampfhaft meinen Kopf. Wie kann er das nicht hören?
Plötzlich steht Henry auf und geht zum Nebentisch. Ich höre, wie er den Mann anspricht: „Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß, es ist sehr ungewöhnlich, aber könnten Sie vielleicht an einem der anderen Tische Platz nehmen? Mein Freund hier leidet an Misophonie und es geht ihm sehr schlecht, wenn sie neben ihm ihre Suppe essen."

„An was?", fragt der Mann schmatzend und ich kann mir ein Stöhnen nicht verkneifen. Was zum Teufel ist Misophonie und warum erzählt Henry diesem fremden Mann Lügen über mich?
„Misophonie bedeutet eine geringe Toleranz gegen bestimmte Geräusche und in seinem Fall betrifft das sämtliche Geräusche, außer Sprechen und Lachen, die mit dem Mund erzeugt werden", erklärt Henry freundlich. „Ich lade Sie gern auf die Suppe ein, als Entschuldigung sozusagen, aber wir wollten uns wirklich gern ungestört unterhalten und leider ist er durch Sie sehr abgelenkt."

„Oh, das tut mir leid", murmelt der Mann und steht auf. „Natürlich, ich gehe dort drüben hin. Bitte entschuldigen Sie." Er nimmt seine Suppenterrine und geht damit zu einem Tisch am anderen Ende des Cafés. Henry setzt sich wieder neben mich aufs Sofa und lächelt mich an, als ich ihn verblüfft ansehe.
„Miso was?", frage ich überrascht.
Er lacht leise.
„Misophonie, Maxwell. Schreib es dir lieber auf."
„Woher kennst du das und kannst es so perfekt beschreiben?"
„Bin ich jetzt hier die Pochemuchka oder du?", kichert er und ich erwische mich dabei, wie ich bei seiner Frage grinsen muss.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt