Henry sieht auf sein Handy und kuschelt sich an mich. „Vielleicht schlummern wir auch einfach noch ein Stündchen," schlägt er gähnend vor. „Es ist ohnehin noch dunkel, die Vögel sind sicherlich auch noch nicht wach."
Ich lächele und ziehe ihn noch näher an mich, so dass sein Kopf auf meiner Brust ruht.
„Gute Idee," murmele ich schläfrig.
Schon bald dämmere ich weg und träume wirre Dinge von Herbstlaub, gelben Gummistiefeln und auch von Henrys Tränen.Plötzlich und vollkommen unerwartet schießt ein Gedanke in meinen Kopf und ich reiße die Augen auf. Henry liegt noch immer halb auf mir und schläft selig. Umständlich greife ich zum Nachttisch und sehe auf mein Handy. Das Datum lässt sämtliche Eingeweide in meinem Körper zu Eis erstarren.
10. Dezember.
Henry hatte vor zwei Tagen Geburtstag.
Er hatte Geburtstag und ich habe es vergessen.
Er hatte Geburtstag und es ging ihm vor zwei Tagen so schlecht.
Weil er Geburtstag hatte? Weil ich es vergessen habe? Was, wenn er nur deshalb so traurig war, weil ich nicht daran gedacht habe?Geburtstage waren mir nie wichtig. Ich habe das Konzept nie durchblicken können. Man wird geboren. Man tut nichts dafür. Es ist keine besondere Leistung. Wenn überhaupt, müssten nach meiner Meinung die Mütter an den Geburtstagen ihrer Kinder gefeiert werden.
Ich weiß allerdings auch, dass den meisten Menschen Geburtstage wichtig sind. Dass sie gern ihre Liebsten um sich haben, Geschenke bekommen und sie es mögen, wenn ihnen gesagt wird, dass man froh ist, dass sie da sind.
Meine Schwester ist so ein Mensch.Ich weiß nicht, was Henry über Geburtstage denkt. Aber ich weiß, wenn ich den Geburtstag meiner Schwester vergäße, wäre sie sehr, sehr traurig darüber.
Die Kälte in mir verfestigt sich zu einem Eisklumpen in meinem Magen. Ich versuche, ruhig zu atmen und mich durch Henrys Nähe und Wärme beruhigen zu lassen. Doch alles, was ich denken kann, ist, dass ich seine Nähe und Wärme nicht verdient habe. Wenn ich den Geburtstag meines festen Freundes vergesse, bin ich es überhaupt wert, mich sein fester Freund nennen zu dürfen? Sind nicht besonders Paare gerade zu überschwänglich, wenn es um Geburtstage geht? Ich hatte nicht nur kein Geschenk. Ich habe nicht einmal daran gedacht.
Vorsichtig stehe ich auf und decke Henry mit der weißen Bettdecke zu, damit er nicht friert. Mein armer Henry. Ich hätte ihm vermutlich einen furchtbaren Tag erspart, wenn ich etwas sensibler wäre. Ich hätte ihm den vermutlich furchtbarsten Geburtstag seines Lebens erspart.
Der scharfkantige Eisklumpen in mir scheint mein Inneres zu zerschneiden, je mehr ich darüber nachdenke. Wir fliegen heute zurück nach New York und ich verstehe, wenn Henry mich hinterher nicht mehr sehen möchte. Ich mache mir nicht viel aus Geburtstagen, aber wenn ihm Geburtstage wichtig sind, verstehe ich das. Und ich habe ihn enttäuscht.
„Maxwell?" schreckt mich Henrys besorgte Stimme hoch. Ich liege nackt auf den warmen Fliesen im Hotelbadezimmer. Doch die Fußbodenheizung kann den Eisklumpen nicht auftauen.
Ich starre nur in Henrys braune Augen mit den goldenen Flecken und beiße mir schmerzhaft auf die Unterlippe, als ich daran denke, dass ich diesen Teil an ihm wohl am meisten vermissen werde.Seine Augen und sein Lächeln. Und seine geliebten Worte. Sein Geplapper.
Ich werde alles an Henry vermissen und die gemeinsame Zeit mit ihm nie vergessen. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie in den vergangenen Wochen, seit er zum ersten Mal durch diesen Laubhaufen gesprungen ist.„Hey," macht er liebevoll und streicht durch meine Haare. Ich schließe wehmütig die Augen und sauge seine Berührung in mich auf. Ich wünschte, ich hätte jede Berührung noch mehr genossen. Nichts mit Henry ist für mich selbstverständlich.
„Hast du Angst vor dem Flug?"
Ich schüttele meinen Kopf. Doch, natürlich habe ich Angst vor dem Flug. Aber diese Aviophobie ist nichts im Vergleich zu.. ich habe kein Wort dafür. Es ist wie Saudade, nur eben vorher. Der Mensch, den ich liebe, ist noch da, aber ich weiß schon jetzt, dass ich ihn vermissen werde.Ich liebe Henry. Der Gedanke sorgt dafür, dass der heiße Brocken in meiner Brust wieder da ist. Doch statt den Eisklumpen in meinem Bauch aufzutauen, zerfressen mich nun beide von innen. Warum wird mir das jetzt erst klar? Ich war so dumm. Es war so offensichtlich die ganze Zeit. Und jetzt habe ich alles kaputt gemacht.
„Maxwell," flüstert Henry voller Sorge. „Was ist los? Du weinst."
Tatsächlich, ich spüre wie warme Tränen aus meinen Augen auf die warmen Fliesen tropfen. Der heiße Brocken schnürt mir die Kehle zu. Ich versuche, mich zusammenzureißen. Ich weiß, dass Henry sich Sorgen macht, wenn ich so bin. Ich will nicht, dass Henry sich Sorgen macht. Davon habe ich ihm schon mehr als genug beschert.Ich wische die Tränen weg und stehe schwerfällig auf. Das Gefühl ist merkwürdig. Alles in mir zieht mich zurück auf die Fliesen, doch ich zwinge mich, aufzustehen und zum ersten Mal in meinem Leben etwas vorzutäuschen. Ich möchte nicht, dass Henry sich sorgt, also täusche ich vor, dass es mir gut geht. Ich zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht und ich tue noch etwas anderes zum ersten Mal.
„Ich hatte etwas im Auge. Ich wollte noch einmal die Fußbodenheizung genießen bevor wir aufbrechen," höre ich mich sagen.
Ich lüge.Henry, der noch immer auf den warmen Fliesen sitzt, blickt mich skeptisch von unten an und ich habe das Gefühl, seine schönen braunen Augen mit den goldenen Flecken blicken direkt in meine Seele und erkennen die Maske, die ich aufgesetzt habe.
„Sicher?" fragt er leise. Ich nicke und weiche seinem prüfenden Blick aus.„Möchtest du dir noch die Vögel anhören oder wollen wir einfach frühstücken gehen?"
Ich zucke mit den Schultern. Wenn es darum ginge, was ich möchte, würde ich gerade alles tun, solange Henry noch in meiner Nähe ist. Ich unterdrücke die Tränen, die in meine Augen steigen und beschäftige mich ausgiebig mit der Duscharmatur.„Fein," sagt Henry und klingt beleidigt. „Dann überleg dir das doch, während du duschst und ich warte solange bis du dich dazu entschieden hast, wieder ehrlich zu mir zu sein."
Er steht ebenfalls von den Fliesen auf und verlässt das Badezimmer.Kaum dass die Tür sich geschlossen hat, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Das warme Wasser läuft über mein Gesicht und ich schnappe hilflos nach Luft. Er ist wütend. Zu Recht. Und es wird ab jetzt nur noch schlimmer werden.
Ich dusche so lange bis meine Finger schon ganz schrumpelig sind. Anschließend trockne ich mich besonders langsam ab und lasse mir so viel Zeit wie möglich. Ich bin mir bewusst, dass ich es nicht ewig hinauszögern kann, aber dennoch kann ich mich nicht schneller als im Zeitlupentempo bewegen.
Als ich schließlich in meiner dunkelblauen Boxershorts aus dem Badezimmer komme, sitzt Henry auf dem Bett und sieht mich direkt an. Er hat sich zwischenzeitlich ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Boxershorts angezogen. Durch die Gardinen erkenne ich, dass es draußen bereits hell ist. Die ersten Vögel sind nun schon wach. Selbst das Gökotta haben wir nicht geschafft.
„Razliubit," sagt Henry nur und sieht mich direkt an. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber allein die Tatsache, dass er selbst jetzt mit einem wundersamen Wort kommt, macht mich noch trauriger und der Schmerz in mir wächst rasant an.
„W-was?" presse ich heiser hervor und kämpfe schon wieder gegen die Tränen.„Das ist das russische Wort dafür, wenn man aufhört jemanden zu lieben," erklärt er sachlich.
Ich habe nie verstanden, warum es in Liedern, Gedichten oder Romanen immer um gebrochene Herzen geht. Herzen sind Organe. Organe brechen nicht.
Doch genau in diesem Moment tut mein Herz genau das. Es zerbricht.
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Wortliebe | ✓
Teen FictionMax mag Ordnung. Henry liebt das Leben und schöne Worte. Kann der Chaot den verschlossenen Einzelgänger aus seiner Nussschale locken? **Wattys 2020 Gewinner - Kategorie Young Adult** Hinweis: Erwachseneninhalt, für graphische Sprache und Beschreibu...