Saudade

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„Willst du erst noch ein bisschen malen?", biete ich Henry an. Er hebt fragend eine Augenbraue und sieht auf die prägnante Ausbeulung in meiner dunkelblauen Jeans.
„Willst du denn, dass ich male?"
„Ich denke, ich muss erst mal schreiben", erkläre ich. „Das kann dauern."
„Hmm.. okay", willigt Henry ein. „Dann male ich noch ein wenig und du sagst Bescheid, wenn du fertig bist mit schreiben."
Ich lächele und nicke, während ich mein weinrotes Dezemberbuch aufschlage. Henry kniet sich zu mir aufs Bett und küsst meinen Mundwinkel, bevor er sich seine schwarze Boxershorts wieder anzieht.
„Wenn du etwas brauchst, rufst du, okay?"
Wieder nicke ich und beobachte, wie er zurück durch die Schiebetür spaziert.

Etwa zwei Stunden später werde ich von einem warmen Gefühl auf meiner Haut wach, das immer wieder erscheint und dann verschwindet, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Was ist das? Ich blinzele verwirrt und bemerke, dass mein Notizbuch für Dezember neben mir liegt, ich muss wohl beim Schreiben eingeschlafen sein. Mir wird bewusst, dass ich auf dem Bett in Henrys Atelier liege.

Das warme Gefühl, das ich überwiegend an meinem Hals und meinem Gesicht spüre, ist Henry oder vielmehr Henrys weiche Lippen, die mich überall dort küssen, wo meine Haut nicht von Stoff bedeckt ist. Da ich noch immer meine dunkelblaue Jeans und meinen schwarzen Pullover trage, muss er sich auf mein Gesicht und meinen Hals beschränken.
Das ändert jedoch nichts daran, dass das Gefühl unfassbar schön ist und ich wohlig seufze.

„Hallo, Schlafmütze", murmelt Henry heiser an meiner Haut.
„Entschuldige bitte", flüstere ich, meine Stimme noch ganz belegt vom Schlaf.
„Was?" Noch ein Kuss unter meinem Ohr.
„Dass ich eingeschlafen bin. Das war so nicht geplant."
„Nicht schlimm", wispert er. „Aber jetzt, wo du wach bist, kann ich dich ja bitten, dich auszuziehen. Du bist nämlich ganz schön schwer, Maxwell."
Was? Mit großen Augen sehe ich ihn an. Henry grinst verschmitzt, seine braunen Augen funkeln mich an und seine Hände nesteln am Saum meines schwarzen Pullovers.

Ich halte seine Hände fest und starre ihn weiter an. „Was hast du vor?", frage ich zweifelnd.
Henry seufzt lächelnd und küsst liebevoll meine Lippen, seine warmen, weichen Finger streichen über meinen Bauch.
„Ich wollte mich gern für vorhin revanchieren."
Ich schlucke trocken und urplötzlich überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Fühlt er sich dazu verpflichtet? Habe ich den Eindruck vermittelt, dass er das tun muss? Was, wenn er das gar nicht will und mir nur einen Gefallen tut? Was, wenn er mich abstoßend findet? Beim letzten Mal hatte ich ja nur meine Hose ausge-

„Maxwell, was ist los?", reißt Henry mich aus meinem Gedankenkarussell. Ich stelle fest, dass ich wieder meine Augen zusammenkneife und fest und schnell durch die Nase atme, wie immer, wenn ich beunruhigt bin.
„Ich.. du..", stammele ich, doch finde keine Worte und versuche stattdessen, aufzustehen. Henry rutscht überrascht von mir weg und sieht mich traurig an.
„Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht überrumpeln", sagt er leise.
Ich sehe mich verzweifelt nach meinen Schuhen um. Wo habe ich sie gelassen?

Ohne ein Wort gehe ich ins Atelier und sehe sie vor der Schiebetür stehen. Da sind sie. Gott sei Dank! Ich ziehe sie schnell an und nehme meine schwarze Jacke vom Haken. Während ich den Reißverschluss schließe, bemerke ich Henry, der, noch immer in seiner schwarzen Boxershorts bekleidet, zu mir kommt und mir mein weinrotes Dezemberbuch gibt. Beschämt sehe ich auf den Boden und schiebe das Notizbuch in meine Tasche. Ich kann ihn nicht ansehen, ich fühle mich so schlecht, dass ich ihn offenbar unbewusst fast zu etwas genötigt hätte, was er vielleicht gar nicht will. Wortlos gehe ich durch die Tür und schnell die Treppen nach unten. Bevor ich den nächsten Absatz erreiche, höre ich, wie die Tür oben ins Schloss fällt und das Geräusch hallt schmerzhaft in meiner Brust wider.

•••

An diesem Abend bekomme ich keine ‚Gute Nacht' Nachricht und auch am nächsten Morgen zeigt mein Smartphone keinen ‚Gut geschlafen?' Text von Henry. Ich habe keinen Appetit und das schmerzhafte Gefühl in meiner Brust ist zu einem Brennen geworden, das sich mit jedem Blick auf mein leeres Display verstärkt.

Ich sitze an meinem weißen Küchentisch und starre auf meine langen Finger. Ich denke an Henry und ich denke daran, dass er mir fehlt. Ich habe etwas falsch gemacht und das, obwohl ich mir so große Mühe gegeben habe, alles richtig zu machen, denn ich mag Henry. Sehr. Ich mag Henry sehr, doch ich habe etwas gemacht, dass Henry mich nicht mehr mag, denn ich habe keine Nachrichten mehr von ihm bekommen.

Mein Telefon piept und ich sehe eilig darauf. Die Nachricht ist nicht von Henry.

Jennifer Foster

Bist du heute bei
Henry?

Nein.

Ist alles okay, Max?

Nein.

Noch während das Display meines Telefons allmählich wieder schwarz wird, stehe ich langsam auf und gehe in mein Badezimmer. Ich ziehe mich aus, lege meinen grauen Pullover und meine blaue Jeans ordentlich zusammen und auf dem Hocker ab und lege mich auf die kalten Fliesen. Ich schließe meine Augen und denke an Henry und spüre, wie eine salzige Träne von meinem Auge über meine Schläfe auf den kalten Marmor tropft.

Irgendwann sehe ich in braune Augen. Sie haben keine goldenen Flecken, sie sind schlicht braun, wie schon seit einundzwanzig Jahren, denn sie gehören meiner Schwester. Jennifer liegt auf dem Boden neben mir und hält meine Hand. In ihren Augen sehe ich große Sorge, so wie immer, wenn sie mich so vorfindet. Und wie immer stellt sie keine Fragen. Kein ‚Was ist passiert?' oder ‚Was kann ich tun?' und ich bin gerade unendlich froh, sie zu haben.

Später sitzen wir auf meinem Sofa und Jennifer hat mir meine graue Fleecedecke um meine Schultern gelegt. Ich habe noch kein Wort gesprochen. Was soll ich auch sagen?
Ich habe Henry angefasst. Und dann dachte er, er müsste mich auch anfassen. Und dann bin ich gegangen, weil ich nicht will, dass Henry etwas tut, was er nicht möchte. Henry fehlt mir.
Ich habe das Gefühl, meine Schwester würde mich nicht verstehen. Ich verstehe mich selbst ja nicht mal.

Mein Handy blinkt auf und ich kann mich nicht bewegen. Jennifer nimmt es, liest die Nachricht, die ich offenbar bekommen habe und runzelt verwirrt die Stirn.
„Max?"
Ich sehe sie mit glasigen Augen an. Möchte ich wissen, was auf dem Display steht?
Meine Schwester reicht mir mein Telefon und ich lese nur:

Henry Page

Saudade,
Portugiesisch
Das Gefühl, dass dir etwas
Nicht-Vorhandenes fehlt
oder dass jemand, den du
liebst, nicht zurückkehren
wird.

Ich starre entsetzt auf mein Telefon und breche zum ersten Mal seit dem Tag, an dem meine Mutter mich aus der Grundschule abholen musste, in Tränen aus.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt