Hypomanie

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Mit einem festen Kloß in meinem Hals und einer pochenden Erektion in meiner grauen Boxershorts starre ich Henry an.
„Gefällt dir, was du siehst, Maxwell?" haucht Henry, während er sich weiter streichelt.
Meine Zunge befeuchtet meine trockenen Lippen und ich räuspere mich. „Dr. Cooke wird gleich hier sein. Du solltest dir etwas anziehen."
„Hmm," macht Henry und stöhnt leise. „Dann mach doch einfach die Tür nicht auf."

„Doch, Henry," widerspreche ich und schlüpfe in meine hellgraue Jeans von gestern. „Ich mache mir Sorgen um dich."
„Das musst du nicht. Mir geht es gut, Maxwell," antwortet er und in diesem Moment klopft es an der Zimmertür. Ich streife mir noch schnell mein dunkelblaues T-Shirt über und öffne Dr. Cooke die Tür.

Er sieht anders aus, als ich es gewohnt bin. Er trägt ein weißes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose und sieht noch etwas verschlafen aus. Normalerweise trägt Dr. Cooke Hemden und schlecht gebügelte Chinohosen.
„Guten Morgen, Dr. Cooke," sage ich und trete verlegen von einem Bein aufs andere. Ich bin nicht sicher, wie Henry es findet, wenn ich meinem Therapeuten Zutritt zu unserem Zimmer gewähre, während er sich selbst berührt.
„Hallo, Max," begrüßt Dr. Cooke mich. „Wie geht es ihm?" Er schiebt sich an mir vorbei, ohne darauf zu warten, dass ich ihn hereinbitte.

Zögerlich folge ich ihm und bin erleichtert, als ich sehe, dass Henry seine untere Hälfte mit der Bettdecke bedeckt hat.
„Guten Morgen, Henry," begrüßt Dr. Cooke ihn. „Wie geht es dir?"
Henry hat seine Hände hinter dem Kopf verschränkt und grinst meinen Therapeuten an.„Nun, wenn Sie nicht hier wären, ginge es mir vermutlich hervorragend. Und Maxwell noch hervorragender." Er zwinkert in meine Richtung und ich spüre, wie ich erröte.
Dr. Cooke nickt und setzt sich wie gestern an den grauen Schreibtisch. Ich stehe unbeholfen herum und weiß nicht, ob ich bleiben oder lieber gehen sollte.

„Setz' dich ruhig zu ihm, Max," schlägt Dr. Cooke vor und Henry klopft zustimmend neben sich auf das Bett. Verlegen setze ich mich neben Henry und sehe meinen Therapeuten erwartungsvoll an.
„Wie lange hast du deine Tabletten nicht mehr genommen, Henry?" fragt Dr. Cooke ihn direkt. Mir fällt auf, wie Henrys Augen sich leicht weiten.
Er holt Luft, als wollte er widersprechen, schließt dann aber wieder seinen Mund.

„Mir ging es ohne wirklich hervorragend," antwortet er schließlich gelassen.
„Bis gestern."
„Ja, jeder hat mal einen schlechten Tag."
„Weißt du noch, wie schlecht dein Tag gestern war? Max war so besorgt um dich, dass er mich angerufen und mich angefleht hat, von New York hierher zu fliegen," erklärt Dr. Cooke.
Henry sieht kurz zu mir und senkt dann betreten seinen Blick. Ich sehe ihm an, dass es ihm leid tut.

Ich sitze da und schaue wie bei einem Tennisspiel zwischen beiden hin und her.
„Wissen Sie denn, was das war?" frage ich schließlich meinen Therapeuten.
„Ich vermute eine Hypomanie. Richtig, Henry?"
Henry sieht auf die Bettdecke hinab und nickt leicht.
„Und was bedeutet das?" frage ich.
„Im Prinzip ist eine Hypomanie das Gegenteil einer Depression. Der Patient erlebt ein dauerhaftes Hochgefühl, erhöhte Schaffenskraft, gesteigertes Redebedürfnis, Rastlosigkeit.."

Überrascht sehe ich Henry an, denn all diese Dinge treffen auf ihn zu. Er blickt beschämt auf die Bettdecke vor sich und ich meine, seine Unterlippe zittern zu sehen.

„An sich," fährt Dr. Cooke fort. „Ist das kein Problem und muss nicht medikamentös behandelt werden. Allerdings wechseln sich diese Phasen oftmals mit depressiven Episoden ab, die dann entsprechend schwer ausfallen, wenn man nicht rechtzeitig mit einer leichten Dosis entgegenwirkt."
„Warum hast du nichts gesagt?" frage ich Henry besorgt und will seine Hand nehmen, doch er zieht sie weg. Mein Brustkorb brennt, ich kann seine Zurückweisung nicht ertragen.
„Was hätte ich denn sagen sollen? ‚Hey, ich bin ein Psycho, aber ich finde dich unglaublich süß.'?" fragt Henry schnippisch und der Druck in meiner Brust verstärkt sich. Ich beiße mir auf die Unterlippe.

„Dann wäre ich hier zumindest nicht der einzige Psycho," flüstere ich heiser und gehe ohne mich umzudrehen ins Badezimmer. Ich schließe die Tür hinter mir ab und lege mich auf die Fliesen.
Es klopft an der Tür und ich höre Dr. Cooke. „Max, ist alles okay?"
„Ja," rufe ich zurück. „Ich bin okay. Ich brauche nur meine Ruhe."
„Ich gehe erst einmal. Ihr müsst wohl einiges klären. Du rufst an, wenn was ist?"
„Ja. Danke, Dr. Cooke."
„Gern, Max."
Ich höre, wie sich die Zimmertür schließt, dann ist es still.

Ich liege auf den warmen glatten Fliesen und bin nicht wie sonst. Ich kann sprechen. Ich kann denken. Ich bin nur.. wütend. Ich bin wütend auf Henry. Ich habe so viel erlebt und durchlitten in den letzten beiden Tagen und er macht eine schnippische Bemerkung, nachdem ich fast wahnsinnig war vor Sorge um ihn.
Plötzlich höre ich Henrys Stimme hinter der Badezimmertür.
„Maxwell, es tut mir leid," ruft er. Er versucht die Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen.
„Liegst du auf den Fliesen?" fragt er.

Ich kann nicht antworten. Ich mag, dass er scheinbar immer weiß, wie es in meinem Kopf aussieht, aber ich bin noch immer wütend und enttäuscht. Darum schweige ich.
„Hör zu, Maxwell," seufzt Henry hinter der Tür. „Ich würde es dir wirklich gern erklären. Darf ich mich zu dir legen? Du musst mich auch nicht ansehen."

Ich knie mich kurz hin und öffne das Türschloss, bevor ich mich wieder auf die Fliesen lege. Dieses Mal drehe ich meinen Kopf zur Wand. Ich kann ihn gerade nicht ansehen.
Ich spüre, wie Henry sich neben mich legt, obwohl er mich nicht berührt.

„Ich war immer sehr fröhlich," beginnt er mit ruhiger Stimme zu erzählen. „Als Kind habe ich nur gelacht. Meine Mom hat immer gesagt, wenn man Glücklichsein im Wörterbuch nachschlägt, findet man daneben ein Bild von mir.
Als sie starb, war ich traurig. Aber nicht so traurig, wie ich hätte sein müssen. Ich hatte noch immer Ideen und Lust, etwas zu erschaffen und habe ununterbrochen geredet.

„Ein halbes Jahr später hatte ich meine erste Depression. Ich wachte morgens auf und mir war plötzlich bewusst, dass ich eine Waise war und meine Mutter nie wiedersehen würde.
Ich habe eine Woche nur in meinem Bett gelegen. Onkel Buck fiel es gar nicht auf, aber seine Köchin, Milena, rief irgendwann einen Arzt. Der stellte fest, dass ich hypomanisch bin.

„Solange es mir gut geht, muss ich keine Medikamente nehmen. Nur in depressiven Phasen helfen mir Beruhigungsmittel. Ich hatte seit über einem Jahr keine Episode mehr und seit ich dich kenne, habe ich sogar fast vergessen, dass ich nochmal eine haben könnte.

„Du machst mich so unsagbar glücklich, Maxwell. Ich hätte nie gedacht, dass das geht, aber du machst mich noch glücklicher, als ich es ohnehin schon bin. Und als ich feststellte, dass du deine eigenen.. Herausforderungen hast, wollte ich dich damit nicht noch zusätzlich belasten.
Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht belügen und es tut mir noch viel mehr leid, dass ich dir solche Angst gemacht habe. Kannst du mir verzeihen?"

Langsam drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. Seine braunen Augen blicken mich sorgenvoll an. Ohne etwas zu sagen, schiebe ich meine Hand in seine noch immer wuscheligen Haare und flüstere: „Cafuné."

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt