Aviophobie

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„Das Boarding für Flug AA1126 nach Key West beginnt in zehn Minuten", schallt die Durchsage durch das Terminal. Wie auf Knopfdruck scheinen die Schweißdrüsen an meinen Händen Vollgas zu geben und mir rutscht fast mein Stift aus der Hand.
„Das sind wir", singt Henry fröhlich und springt auf. „Komm, Maxwell."
Ich blicke zu ihm auf und bin mir gerade nicht mehr sicher, ob das Ganze wirklich eine gute Idee war. Sieben als Glückszahl hin oder her, aber gibt es nicht auch die sieben Todsünden, die sieben Plagen der Endzeit, die sieben-

„Maxwell", beruhigt mich Henrys sanfte Stimme. Wieder einmal. Wieder einmal holt er mich aus meinem Gedankenkarussell.
„Die sieben Weltwunder", sagt er nur und ich blicke ihn verwundert an. Wie hat er das gemacht?
Er zwinkert mir zu, nimmt meine Hand und zieht mich mit sich zum Gate.
Als wir die Gangway entlanggehen, lässt er meine kalte, schwitzige Hand nicht eine Sekunde los und erst als wir im Flugzeug an unseren Plätzen stehen, sagt er lächelnd: „Du darfst ans Fenster."
Zweifelnd sehe ich ihn an.
„Damit ich von uns beiden besser sehen kann, wie wir ins Verderben stürzen?"
Er kichert.
„Nein, damit du weißt, warum Fliegen eine fantastische Erfahrung ist. Vertrau mir, Maxwell."

Ich schiebe mich auf den winzigen grauen Sitz und bemühe mich, den Gedanken daran, wieviele fremde Hinterteile den abgenutzten Polyesterstoff schon vor mir mit ihrem Angstschweiß getränkt haben, zu verdrängen. Das Fenster neben mir ist winzig, aber zumindest kann ich einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf das kalte, graue New York werfen.

Die Flugbegleiter beginnen mit der Präsentation der Sicherheitsvorkehrungen und ich schreibe aufgeregt in mein weinrotes Dezemberbuch. Nicht unbedingt das, was sie sagen, denn ich bin mir sicher, es ist für mein Überleben im Fall eines Absturzes relativ unerheblich, ob ich meinen Kopf zwischen meinen oder Henrys Knien habe. Vielmehr schreibe ich meine Eindrücke meiner Umgebung auf, das unangenehme nervöse Gefühl in meinem Bauch und meine Überlegungen, ob Flugbegleiter wohl vor jedem Flug innerlich Abschied von ihrem Leben nehmen und ob es ihnen wohl unangenehm ist, jedes Mal mit einer gelben Rettungsweste und einer Trillerpfeife vor einer Gruppe gelangweilter Passagiere zu stehen, die ihnen gar nicht richtig zuhören.

Als die Präsentation vorbei ist, sehe ich erneut seufzend aus dem winzigen Fenster.
„Woher wusstest du das?", frage ich Henry, ohne meinen Blick vom grauen Asphalt des Rollfeldes draußen zu nehmen.
„Was?"
„Woran ich dachte?"
Henry kichert leise und verschränkt unsere Finger miteinander.
„Manchmal bist du wie ein offenes Buch für mich, Maxwell", säuselt er und ich sehe ihn überrascht an.
„Wirklich?"
Er schüttelt lachend den Kopf.
„Leider nicht, aber du hast vor dich hingemurmelt und dabei ging es um Todsünden und Plagen."
Ich muss unwillkürlich grinsen.
„Trotzdem danke."
„Wofür?"
„Dafür, dass du mich wieder einmal aus dem Karussell geholt hast."

Henry legt sein Kinn auf meine Schulter, so dass sein Gesicht ganz nah an meinem ist.
„Wenn dir schon schwindelig wird, will ich der Grund dafür sein", flüstert er und mein Blick wandert sofort zu seinem weichen Mund. Meine Zunge befeuchtet meine eigenen Lippen und gerade, als ich meinen Kopf nach vorn beugen will, lässt mich ohrenbetäubender Krach zusammenzucken. Die Finger meiner linken Hand krallen sich schmerzhaft in die Plastikarmlehne und ich befürchte, dass meine rechte Hand gerade Henrys Finger bricht. Ich sehe zu ihm herüber, doch er lächelt beruhigend und streichelt immer wieder über meinen Handrücken.

Bevor ich ihm sagen kann, dass ich diese ganze Sache doch abbrechen und bitte so schnell wie möglich diese Höllenmaschine verlassen möchte, drückt mich eine unsichtbare Hand so fest in die Sitzlehne hinter mir, dass ich befürchte, die ganzen Kolibris in meinem Bauch würden demnächst durch meinen Rücken gedrückt und durch das Flugzeug geschleudert werden.
Das gesamte Flugzeug vibriert, das Tosen wird noch lauter und als ich zu dem winzigen Fenster sehe, wird mir mit Schrecken bewusst, dass meine graue Heimatstadt in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbeizieht.

Ein Schrei steckt in meiner Kehle fest, als ich auf einmal das Gefühl habe, nach hinten zu kippen und innerhalb von einer Sekunde macht mein Magen einen kleinen Hüpfer und das Rütteln ist vorbei. Das Tosen ist immer noch laut, aber irgendwie gedämpfter und ich fühle mich.. schwebend.
Verblüfft sehe ich zu einem grinsenden Henry neben mir.

„Der Start ist das Beste", sagt er laut über den Lärm der Turbinen hinweg. Mit großen Augen starre ich ihn an. Gern würde ich in mein Dezemberbuch schreiben, aber ich bin noch nicht bereit, seine Hand loszulassen. Henrys Hand ist mein Anker, selbst wenn ich gerade meilenweit hoch oben in der Luft schwebe.

Nach einer Weile wird das Tosen leiser und ich habe das Gefühl, leicht nach vorn zu kippen. Augenblicklich verstärke ich meinen Griff um Henrys Finger, denn ich bin mir sicher, jetzt ist der Moment gekommen, in dem wir mit unfassbar hoher Geschwindigkeit auf den Abgrund zurasen werden.
„Ladies and Gentlemen, mein Name ist Seth Davidson. Ich bin heute Ihr Flugkapitän und darf Sie herzlich an Board begrüßen. Wir haben nun unsere Flughöhe erreicht und befinden uns auf Kurs. Unsere Flugzeit nach Key West beträgt voraussichtlich dreieinhalb Stunden. Das Wetter vor Ort ist derzeit wolkig bei milden vierundzwanzig Grad," schallt die Durchsage des Piloten durch die Lautsprecher.

„Alles okay, Maxwell?", fragt Henry mich leise.
„Wir werden nicht sterben?", frage ich zögerlich.
Henry kichert leise.
„Nein, zumindest nicht jetzt."
Erleichtert lehne ich mich zurück und blicke aus dem kleinen Fenster. Der Ausblick verschlägt mir einfach den Atem, denn ich sehe blauen Himmel und darunter weiche, weiße Wolken wie aus Watte. Ohne es beeinflussen zu können, verspüre ich den unbändigen Wunsch, auf diesen Wolken umher zu gehen oder sie zumindest zu berühren.
„Willst du dich nicht auch einfach in dieses riesige Wolkenbett fallen lassen?", lacht Henry vergnügt neben mir.
Ich nicke staunend und kann plötzlich nachvollziehen, warum er das Fliegen so mag.

Das gleichmäßige Brummen der Turbinen, das Nachlassen des Adrenalins in meinem Kreislauf und Henrys Daumen, der beruhigende Kreise auf meinem Handrücken zeichnet, lassen mich irgendwann eindösen. Mein Kopf lehnt an Henrys Schulter und ich träume von Wolkenbetten und Schwerelosigkeit.

Irgendwann weckt mich ein leichtes Rütteln und eine erneute Ansage des Piloten lässt die Lautsprecher knacken.
„Ladies and Gentlemen, wir werden in Kürze mit dem Landeprozess beginnen. Bitte schnallen Sie sich wieder an und bringen Sie Ihre Rückenlehnen in eine aufrechte Position. Ich hoffe, Sie haben Ihren Flug mit uns genossen. Mein Name ist Seth Davidson und im Namen meiner gesamten Crew bedanke ich mich, dass Sie mit uns geflogen sind und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Key West."

Landeprozess? Augenblicklich bin ich hellwach. Ich hatte vollkommen verdrängt, dass diese Todesmaschine ja auch irgendwann wieder auf den Erdboden muss und sofort erhöht sich mein Puls.
Henry greift wieder nach meiner Hand und lächelt mich an, doch mein Gesicht ist wie eingefroren. Ein Blick durch die Scheibe neben mir verrät mir, dass die Häuser und der Ozean im Hintergrund allmählich näher kommen, was bedeutet, dass sich das Flugzeug bereits im Sinkflug befindet. Anders als auf den Start, war ich auf die Landung irgendwie nicht vorbereitet.

Um meine angehende Panik noch zu verstärken, beginnt wieder das laute Tosen und eine leichte Vibration und wieder krallen meine Finger sich in die Armlehne. Alles scheint zu wackeln, Henry neben mir kichert und während ich noch denke, dass er vermutlich der einzige Mensch auf diesem Planeten ist, der lachend in den Tod geht, ruckelt das Flugzeug auf einmal so fest, dass ich befürchte, dass es genau jetzt auseinanderbrechen wird.

Doch nichts dergleichen geschieht, denn da ist wieder dieses vibrierende Rollen unter uns und die unsichtbare Hand, die mich beim Start noch in den Sitz zurückdrückte, zieht mich nun nach vorn, als der Pilot das rollende Flugzeug stark abbremst.
Ein paar Menschen klatschen und jubeln und ich habe kurz den Wunsch, genau das Gleiche zu tun, so erleichtert bin ich, doch noch zu leben.

„Whoohoo", macht Henry neben mir und drückt mir einen herzhaften Schmatzer auf meinen Mund. „War das nicht toll?"
Ich sehe ihn entsetzt an und greife schnell nach vorn in die Tasche meines Vordersitzes.
„Oh oh", höre ich noch neben mir, während ich mich würgend in die dafür vorgesehene Tüte übergebe.

„Aviophobie", erklärt Henry seelenruhig und reicht mir mein Dezemberbuch, das er umsichtig von meinem Schoß genommen hat.
„Was?", stöhne ich.
„Flugangst. Hat jeder beim ersten Mal."
Seine Hand streichelt sanft über meinen Rücken und ich frage mich innerlich, wie ihm selbst in solchen Momenten noch seine geliebten Worte in den Sinn kommen.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt