mbuki-mvuki

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Der plötzliche Drang jemanden zu küssen? Plötzlich bin ich nervös. Küssen? Ich küsse niemanden. Ich habe noch nie jemanden geküsst. Was hat Henry damit gemeint? Bedeutet das, dass ich den Drang hatte, Henry zu küssen oder dass er den Drang hatte, mich zu küssen? Warum würde er mich küssen wollen? Das ist vollkommen absurd.

„Max?", höre ich Dr. Cookes Stimme von weit weg. „Max, sieh mich an!"
Ich zwinge meine Augen, meinen Therapeuten anzusehen, aber meine Gedanken kreisen wieder zu Henry. Henry und der Krümel in seinem Bart. Henrys rosafarbene Lippen. Henrys Lächeln. Ich mag Henry. Ich denke, ich würde Henry gern küssen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Henry mich mag. Der Gedanke macht mich traurig.

„Max, was denkst du gerade?", fragt mich Dr. Cooke.
„Henry mag mich nicht", sage ich trocken und starre ins Leere. Dr. Cooke runzelt seine Stirn.
„Okay, ich hätte gern alle Gedanken zwischen meiner Worterklärung und deiner letzten Aussage. Schaffst du das, Max?", bittet er mich.
Ich schließe meine Augen und versuche, mich gedanklich zurück zu meinem Ausgangspunkt zu begeben. Diese Übung haben Dr. Cooke und ich schon oft gemacht, wenn ich wegen etwas nervös wurde.

„Hatte ich den Drang oder er?", beginne ich. „Ich habe noch nie jemanden geküsst. Seine weichen Barthaare, seine Lippen. Ich mag Henry. Ich würde Henry gern küssen. Henry würde mich nicht gern küssen. Henry mag mich nicht."

Dr. Cooke nickt.
„Der Sprung zwischen ‚Du möchtest ihn gern küssen, aber er dich nicht.' ist mir zu groß. Warum denkst du das?"
Entsetzt sehe ich meinen Therapeuten an. Wie kann das nicht offensichtlich für ihn sein?
„Menschen mögen mich nicht. Und man küsst nur Menschen, die man mag", erkläre ich.
„Du magst Henry", fasst Dr. Cooke zusammen. „Denkst du, er würde Zeit mit dir verbringen, wenn er dich nicht mögen würde?"
„Er kennt mich nicht."
„Du kennst ihn auch nicht."
„Doch, er ist sehr glücklich. Trotz seiner Geschichte ist er glücklich", widerspreche ich.
„Das bedeutet nicht, dass du ihn kennst. Und du magst ihn trotzdem. Sprich ihm nicht das gleiche Gefühl ab."

„Was ist, wenn er mich küssen will?", frage ich.
„Würde dich das glücklich machen?"
„Ich kann nicht küssen."
„Hast du schon mal jemanden geküsst, Max?"
„Nein. Sie wissen, dass ich noch nie jemanden geküsst habe."
„Dann kannst du nicht wissen, ob du es kannst oder nicht. Wenn er dich küsst, folgst du deinem Gefühl."
Ich starre ihn entsetzt an. Mein derzeitiges Gefühl beim Gedanken daran, jemanden zu küssen, den ich mag, den ich aber nicht verschrecken möchte, weil ich noch nie jemanden geküsst habe, ist weglaufen.

„Nicht weglaufen, Max", ermahnt mich Dr. Cooke. Er kennt mich mittlerweile ganz gut, aber er möchte mich nicht küssen. Darüber bin ich sehr froh.
„Atmen, okay? Wenn es dazu kommen sollte, denk daran zu atmen", rät er mir.

•••

Während ich mit meinem rauchblauen Notizbuch zu meiner Bank gehe, analysiere ich das Gefühl in meinem Bauch. Es kribbelt und ich verstehe plötzlich die allseits bekannte Metapher mit den Schmetterlingen. Vom Gefühl her sind es mindestens fünf Schmetterlinge in meiner Magengegend. Große Exemplare, die es meist nur in tropischen Gebieten gibt. Ließe ich sie frei, würden sie die Kälte und den Wind hier nicht lange überleben.

Ich sehe, dass Henry bereits auf meiner Bank sitzt, sein weinroter Regenschirm lehnt neben ihm an der Bank und in der Hand hält er ein gefaltetes Blatt Papier. Die Schmetterlinge in meinem Bauch verdoppeln sich schlagartig und ich räuspere mich, als ich an der Bank ankomme.
Henry sieht auf und wieder leuchten seine Augen, als er mich sieht.
„Hallo, Maxwell", sagt er strahlend und auch ich muss unwillkürlich lächeln.

Ich setze mich neben ihm auf die Bank und starre ihn einfach nur an. Mein Kopf ist erfüllt mit der Frage, ob er mich wohl küssen will oder nicht, doch ihn zu fragen traue ich mich nicht. Er sieht fragend zurück und fragt dann: „Ist alles okay?"
„Basorexie", antworte ich und er hebt die Augenbrauen, als ihm klar wird, dass er das Wort gestern zwar gesagt, aber nicht erklärt hat.

„Ich habe es nicht erklärt", stellt er fest und ich nicke, wende aber meinen Blick nicht von seinem Gesicht ab. „Hast du es gegoogelt?"
Ich schüttele den Kopf. Ich google nicht. Zu viele Antworten auf Fragen, die ich nicht gestellt habe.
„Soll ich es erklären?", fragt er und sieht mich weiterhin an. Ich nicke nur, auch wenn ich die Antwort schon kenne. Ich mag seine Erklärungen.

Seine rosafarbene Zunge befeuchtet seine weichaussehenden Lippen und er sagt mit heiserer Stimme: „Basorexie nennt man den plötzlichen Drang, jemanden zu küssen."
Wieder nicke ich und schlucke.
„Beziehst du das auf dich oder auf mich?", frage ich leise.
Er lächelt wieder.
„Du meinst, ob ich dich küssen will oder du mich?" Ich nicke als Antwort, ich kann nicht sprechen, die Schmetterlinge in meinem Bauch drohen herauszuspringen.

„Also, ich kann nur von mir sprechen, denn leider kann ich nicht in deinen Kopf sehen, Maxwell", sagt er, sein Lächeln lässt dabei nicht nach. Ich schlucke erneut.
„D-du hast den Drang, mich zu küssen?", frage ich ungläubig.
„Oh Gott, ja", seufzt er.
„Warum?"
„Maxwell, du fragst mich allen Ernstes, warum ich den Drang verspüre, dich zu küssen?"
„Ja, ich verstehe es nicht."
Er seufzt und streicht mit seiner Hand über meine Wange.
„Nun, zunächst einmal würde ich gern wissen, ob sich deine Lippen so weich anfühlen, wie sie aussehen", beginnt er und streicht mit seinem Daumen vorsichtig über meine Unterlippe.

Die Schmetterlinge in meinem Bauch sind nun zu wilden Kolibris geworden, die unentwegt gegen meinen Magen stoßen. Das Atmen fällt mir schwer, doch so unberuhigend das Gefühl auch ist, ist es nicht unangenehm.
„Darf ich?", fragt Henry kaum hörbar und ich spüre, wie mein Kopf leicht nickt, ohne dass ich es beeinflussen kann.
Henry neigt seinen Kopf leicht zur Seite, damit seine Nase nicht gegen meine stößt, als er langsam mit seinem Gesicht näher kommt. Seine Hand ruht noch immer an meiner Wange und die goldenen Flecken in seinen Augen scheinen zu funkeln kurz bevor er sie schließt.

Ich tue es ihm gleich und schließe meine Augen ebenfalls. Sein warmer Atem trifft auf meinen Mund und plötzlich spüre ich seine weichen Lippen auf meinen. Es fühlt sich unglaublich an, die Kolibris fliegen alle gleichzeitig ganz hoch und dann wieder runter und ich seufze überrascht.
Viel zu schnell entfernt Henry sein Gesicht wieder etwas von meinem und als ich meine Augen öffne, sehe ich seine ebenfalls wieder funkeln.
„War das okay?", flüstert er.
Ich nicke vorsichtig und hole wieder Luft. Mir fällt auf, dass ich vergessen habe, Dr. Cookes Rat zu befolgen.

„F-für dich auch?", stottere ich.
„Für den Anfang schon", lächelt er und ich sehe ihn fragend an. „Ich möchte dich nicht überfordern, aber glaube mir, mir ist gerade nach mbuki-mvuki."
Ich runzele die Stirn und taste bereits nach meinem rauchblauen Novemberheft.
„Ich hätte Lust, mir die Kleider vom Leib zu reißen und umher zu tanzen", erklärt Henry und bevor ich weiß, wie mir geschieht, lache ich aus Leibeskräften über die Vorstellung, wie Henry und ich nackt über die Parkwiese tanzen, während der Yorkshire Terrier und seine Besitzerin uns verwundert dabei beobachten.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt