Basorexie

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„Du hast ein hübsches Lächeln", sagt Henry und streicht mit seinen weichen Fingern über meine warme Wange. Wie erstarrt blicke ich in seine braunen Augen mit den goldenen Flecken darin.
Schnell zieht er seine Hand zurück.
„Sorry, manchmal kann ich mich nicht zurückhalten", plappert er los und beginnt, sein Stück Käsekuchen mit der Kuchengabel in kleine Stückchen aufzuteilen. „Wobei ich finde, dass man Menschen öfter Komplimente machen sollte. Alle meckern immer schnell, dabei ist es viel schöner, die positiven Sachen hervorzuheben."

Ich notiere schnell in meinem Buch, während er spricht. Er hat Recht und ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass die meisten Menschen sich davor scheuen, anderen Komplimente zu machen.
„Also, Maxwell", beginnt er seine nächste Frage. „Was machst du so den ganzen Tag?"
Ich zögere, denn ich befürchte, dass ich ihn mit meiner Antwort erschrecken werde. Normalerweise ist es mir egal, was Menschen von mir denken, aber aus irgendeinem Grund ist das bei Henry anders. Ich mag ihn, obwohl ich ihn nicht kenne, und ich möchte, dass er mich auch mag.

„Möchtest du es mir nicht erzählen?", fragt er und ich sehe Enttäuschung in seinen Augen. Die goldenen Flecken werden dann dunkler. Doch sie erhellen sich schlagartig wieder, denn offenbar springt eine neue Idee in seinen Kopf und er redet fröhlich drauf los: „Dann erzähle ich erst einmal von mir. Vielleicht fällt es dir dann leichter."
Ich nicke und schreibe nebenbei weiter in mein Novemberbuch.

„Also, ich komme ursprünglich aus Phoenix, das habe ich dir ja schon erzählt. Mein Dad hat meine Mom verlassen, als er erfuhr, dass sie mit mir schwanger ist. Sie hat mich allein großgezogen und starb, als ich dreizehn war. Dann kam ich zu meinem Onkel Buck, den ich bis dahin gar nicht kannte.

Er ist ein alter reicher Brummbär, der nie wirklich viel mit mir sprechen wollte und immer denkt, ich heiße Harry. Aber er war so nett, mir mein Studium zu bezahlen und mir eine Wohnung und ein Atelier hier in New York zu kaufen. Vermutlich, damit ich ihn in Ruhe lasse."
Er kaut kurz seinen Käsekuchen und ich schreibe eifrig die genannten Informationen auf.

„Oh, vielleicht sollten wir Steckbriefe machen. Das wäre lustig", schlägt er vor. Ich runzele die Stirn und notiere auch das.
„Ich habe Kunst studiert, das kannst du gleich noch mit aufschreiben. Ich male überwiegend, aber fertige auch Skulpturen an. Alles, wonach mir gerade ist."

Die kleinen Käsekuchenstücke sind von seinem Teller verschwunden und ich sehe noch einen kleinen Krümel, der an einem der kleinen schwarzen Barthaare an seinem Kinn hängt. Ich starre unbändig darauf, denn er gehört dort nicht hin.
„Habe ich da was?", fragt Henry und wischt sich im Gesicht herum, erwischt den Krümel jedoch nicht.
Ich nehme ihn vorsichtig mit meinem Daumen und Zeigefinger auf. Seine Barthaare fühlen sich genauso weich an wie sie aussehen und ich starre gebannt auf Henrys Lippen.

„Basorexie", flüstert Henry und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Verlegen lege ich den Krümel auf seinem Teller ab und schreibe eilig weiter in mein Buch. Ich warte, dass er das eben genannte Wort buchstabiert oder erklärt, aber er trinkt seinen Latte Macchiato und lächelt mich an.

„Bist du morgen auch wieder auf der Bank?", fragt Henry stattdessen. Ich nicke und sehe auf meine Uhr. Normalerweise wäre ich um diese Zeit noch bei Jennifer, würde mich aber in zehn Minuten auf den Weg nach Hause machen.
„Darf ich mich dann wieder neben dich setzen?", fragt Henry jetzt. Ich nicke erneut und sehe nach der Kellnerin. Der Wunsch, nach Hause zu gehen und in meinen üblichen Rhythmus zurückzukehren, ist nun unbändig stark und Henry scheint das zu spüren.

„Ich übernehme das. Geh du ruhig. Wir sehen uns morgen, Maxwell", strahlt er mich an.
„Danke", sage ich nur und stehe auf. Ich verstaue mein rauchblaues Buch, ziehe meinen schwarzen Mantel an und verlasse dann ohne ein weiteres Wort das Café.

Abends liege ich in meinem Bett und starre an die glatte, weiße Decke meines Schlafzimmers. Ich denke an Henrys braune Augen mit den goldenen Flecken darin, an seine weichen Barthaare und frage mich, ob seine Lippen auch so weich sind, wie sie aussehen.

•••

„Wie geht es dir heute, Max?", fragt mich Dr. Cooke wie jeden Freitagvormittag um zehn Uhr. Ich sitze auf dem braunen Chesterfieldsofa in seiner Praxis, mein rauchblaues Novemberheft auf meinem Schoß. Er sitzt auf dem zweiten Sofa, das im rechten Winkel zu meinem steht und sieht auf seine Notizen von unserer Sitzung der letzten Woche.

„Sehr gut, Dr. Cooke", antworte ich und bemerke, wie er verblüfft eine Augenbraue hebt. In aller Regel antworte ich mit „Gut, Dr. Cooke" oder „Mäßig, Dr. Cooke", ein „Sehr gut, Dr. Cooke" kam meines Erachtens noch nicht vor.
„Das freut mich sehr, Max", antwortet er lächelnd. „Möchtest du mir erzählen, warum es dir heute sehr gut geht?"

Wortlos reiche ich ihm mein Novemberbuch. Das ist zu einer Art Ritual zwischen uns geworden. Ich gebe ihm mein Buch und er liest, was ich in der vergangenen Woche notiert habe. Manchmal rede ich währenddessen, meistens schweige ich.
Er nimmt das Buch entgegen und ich nicke, als er sagt: „Du hast viel geschrieben seit letzter Woche."
Ich beobachte Dr. Cooke beim Lesen und bemerke, wie seine Augenbrauen etwas nach oben gehen. Offenbar ist er beim gestrigen Tag angekommen.

„Du hattest einen interessanten Tag gestern", stellt er fest und ich nicke erneut. „Hat er dir gefallen?"
Fragend sehe ich ihn an. Der Tag oder Henry?
„Ja, ich mag ihn", sage ich und an Dr. Cookes überraschtem Gesicht erkenne ich, dass seine Frage wohl auf den Tag abzielte.
„Macht er dich nervös?" Nun schüttele ich den Kopf.
„Nein, es ist ungewöhnlich. Er ist der erste Mensch, den ich nicht kenne, der mich nicht nervös macht."

Dr. Cooke nickt und tippt dann auf die Seite in meinem Buch.
„Hat er es nicht erklärt oder hast du es nicht aufgeschrieben?", fragt er nun und ich weiß sofort, dass er sich auf das Wort Basorexie bezieht.
„Er hat es nicht erklärt und ich wollte nach Hause. Ich habe vor ihn heute danach zu fragen", erkläre ich.
„Soll ich es dir erklären?"

Ich überlege kurz. Eigentlich mag ich Henrys Erklärungen lieber. Seine Augen leuchten immer so hell, wenn er über eines dieser schönen Worte spricht, die er zu sammeln scheint. Andererseits bin ich sehr neugierig und habe gestern Abend noch lange über die mögliche Bedeutung des Wortes nachgedacht, also nicke ich.

„Basorexie ist der plötzliche Drang, jemanden zu küssen", klärt Dr. Cooke mich auf.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt