Odnoliub

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Ich beiße mir auf die Lippe und starre auf einen imaginären Punkt auf dem hellgrauen Teppich unseres Hotelzimmers.

Razliubit. Das Wort, wenn man aufhört jemanden zu lieben. Heißt das, Henry hat mich geliebt? Wollte er mir das mit dem Cafuné mitteilen? Was habe ich noch alles nicht mitbekommen? Wann bin ich so egoistisch geworden?
Doch mit Erschrecken fällt mir auf, dass ich schon immer genau das war. Egoistisch. Mein ganzes Leben habe ich immer nur an mich selbst gedacht. An meine Bedürfnisse und alle haben sich danach gerichtet. Meine Eltern, meine Schwester.
Henry war der Erste, bei dem ich dachte, es wäre anders. Bei dem ich dachte, ich wäre anders. Doch am Ende war ich offensichtlich genauso egoistisch wie schon immer.

Ich atme zitternd ein und nicke vorsichtig. Der heiße Brocken in meiner Brust schnürt mir die Luft ab, während der Eisklumpen in meinem Magen immer härter und kälter wird.
Ich möchte es nicht noch schwerer für Henry machen, als es vermutlich ohnehin schon ist und zwinge meine Füße, mich zu meinem Koffer zu tragen. Ich knie mich davor und beginne, meine bereits ordentlichen Sachen zu sortieren und erneut zusammenzulegen.

„Willst du gar nichts sagen, Maxwell?" fragt Henry mich und seine Stimme bricht dabei. Eine Träne tropft auf meinen senfgelben Pullover in meiner Hand. Der senfgelbe Pullover, den ich nur besitze, weil Henry bei unserer zweiten Begegnung gesagt hat, gelb würde mir gut stehen.

Ich räuspere mich und beginne zu flüstern: „Ich liebe dich. Ich weiß, es ändert nichts und es tut mir alles so furchtbar leid. Dass ich so egoistisch war und alles vergessen habe. Dass ich es nicht gemerkt habe. Und jetzt ist es zu spät. Ich werde dich immer lieben und es tut mir leid, dass ich das zu spät erkannt habe, Henry."

Plötzlich kniet Henry neben mir und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Du dummer, dummer Mann," schnieft er und küsst zärtlich meine Lippen. Ich nicke und genieße ein letztes Mal seinen Kuss, während die Tränen über meine Wangen laufen.
„Maxwell," lächelt er mich an. „Ich dachte, du magst mich nicht mehr."

Verwirrt sehe ich in seine braunen Augen mit den goldenen Flecken und glitzernden Tränen darin. „Ich liebe dich, Henry," schluchze ich. „Es tut mir leid, ich kenne das Gefühl nicht und es ist mir jetzt erst klar geworden. Und ich habe deinen Geburtstag vergessen und darum ging es dir so schlecht. Es ist alles meine Schuld. Ich möchte nur, dass du glücklich bist und ich habe dich so traurig gemacht, weil ich so egoistisch war. Ich weiß, ich habe dich nicht verdient und jetzt liebst du mich nicht mehr und ich habe es einfach nicht gemerkt.."
Die Worte sprudeln schon beinahe hysterisch aus mir heraus, fast im gleichen Tempo wie meine Tränen.

Henry lässt mein Gesicht nicht los und schüttelt ungläubig den Kopf. Er lächelt unentwegt und obwohl ich ihn noch mehr liebe, wenn er so strahlt, verstehe ich nicht, warum. Ist er erleichtert, dass er mich los ist?
„Ich glaube, so viel habe ich dich noch nie reden hören," sagt er schniefend.
Ich zucke hilflos mit den Schultern und atme stockend ein.
„Sag es nochmal."
Weitere Tränen quillen aus meinen Augen und der Brocken in meiner Kehle droht mich zu ersticken. Warum quält er mich so?
„I-ich liebe dich," presse ich leise hervor und versuche, mich ihm zu entziehen. Ich ertrage den Schmerz nicht länger.

Doch Henry hält mich fest in seinen Händen und küsst mich innig. Seine Stirn lehnt an meiner und er flüstert an meine Lippen: „Ich liebe dich auch, Maxwell."
Überrascht reiße ich meine Augen auf. „A-Aber was ist mit dem Razliubit?"
Henry lacht leise. „Ich bezog es auf dich. Ich dachte, du magst mich nicht mehr. Warum hast du mich angelogen? Bist meinem Blick ausgewichen?"
„I-Ich bin Schuld, dass es dir so schlecht ging, Henry."
„Wie kommst du darauf?" fragt er verblüfft. „Maxwell, wir hatten doch gesagt, dass du mit mir redest."
„Aber ich habe deinen Geburtstag vergessen. Und an deinem Geburtstag ging es dir so schlecht," schniefe ich.

Henry seufzt und legt seine Arme um mich. Mein Kopf ruht an seiner Schulter und ich klammere mich förmlich an ihn.
„Geburtstage sind mir egal. Zumindest mein eigener. Es ist ein Tag wie jeder andere. Und dass die Episode genau dann auftrat, war ein dummer Zufall. Ich finde, wenn, sollte die Mutter am Geburtstag des Kindes gefeiert werden und meine Mom gibt es leider nicht mehr," murmelt Henry leise.
Ich muss leise lachen.
„Was ist so lustig?"
„Ich sehe es genauso wie du. Aber ich dachte, du bist so ein Geburtstagsliebhaber wie Jenny," antworte ich gedankenverloren.

Wenige Stunden später sitze ich mit meinem Freund wieder hoch oben über den weißen, weichen Wolken. Der Start war wieder aufregend. Nach einem Flug ist meine Aviophobie wohl noch lange nicht geheilt. Aber all das ist nichts im Vergleich zu der Angst, die ich verspürt habe, als ich dachte, ich hätte Henry verloren.

„Woran denkst du?" fragt Henry mich flüsternd. Ich lächele und lehne meinen Kopf an seine Schulter. „Daran,  die Angst vor dem Fliegen nicht so schlimm ist wie die Angst davor dich zu verlieren. Daran, dass du mein fester Freund bist. Daran, dass ich dich liebe. Daran, dass ich noch nie jemanden geliebt habe."

„Odnoliub," sagt Henry und ich schaue auf. Mein weinrotes Dezemberbuch liegt auf meinem Schoß und ich schlage es bereits auf. „Das ist ebenfalls russisch und die Bezeichnung für jemanden, der in seinem Leben nur eine Liebe hat."
Ich küsse liebevoll seinen Mundwinkel. „Ich bin mir sehr sicher, dass diese Bezeichnung genau auf mich zutrifft," stimme ich ihm zu.
„Das hoffe ich sehr," murmelt Henry und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab, während ich das neue Wort und dessen Bedeutung in mein Dezemberbuch schreibe.

„Bereust du es?" fragt Henry mich plötzlich.
„Was?"
„Dass du gar nichts von Key West gesehen hast? Wir haben den gesamten Urlaub im Hotelzimmer verbracht."
Ich überlege kurz und muss dann unwillkürlich lächeln.
„Ich habe mehr von Key West gesehen als du," antworte ich wahrheitsgemäß. „Und außerdem habe ich jeden Moment mit dir genossen. Okay, einige Momente waren weniger erfreulich, aber letztendlich haben sie mich zu der Erkenntnis gebracht, dass ich dich liebe. Also, nein. Ich bereue rein gar nichts."

Henry schaut zu mir auf und schüttelt lachend den Kopf.
„Was ist?" frage ich grinsend.
„Bekommen wir es irgendwie hin, dass du auch ohne Tränen und Drama auf einmal so viel redest?"

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt