Tsundoku

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Ich weiß nicht, wie lange Henry und ich auf der Bank sitzen und uns küssen. Es ist mir auch egal. Ich schwelge förmlich in dem Gefühl, das mich erfüllt. Die Kolibris sind noch da, aber haben sich etwas beruhigt und fliegen nun in sanften Wellen durch meinen Körper. Nur wenn Henry etwas Unerwartetes tut, wie an meiner Unterlippe saugen oder als er seine Hand vorsichtig in die Haare in meinem Nacken schiebt, stoßen sie allesamt oben an meine Magendecke. Jetzt, wo ich es kenne, mag ich dieses Gefühl besonders und frage mich, ob es dafür ein eigenes schönes Wort in irgendeiner Sprache gibt oder ob Kilig das mit einschließt.

Irgendwann löst Henry sich vorsichtig von mir und lächelt mich an. Seine Lippen sind ganz geschwollen und glänzen und ich schätze, meine sehen ähnlich aus.
„Wie geht es dir?", fragt er leise. Ich fahre mit meiner Zunge über meine Lippen, um auch den letzten Geschmack von ihm aufzunehmen und antworte heiser: „Besser."
Sein Lächeln wird noch breiter und er nickt.
„Das freut mich."

„Ich habe etwas", beginne ich und er hebt neugierig seine dunklen Augenbrauen. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, greife ich in meine Manteltasche und ziehe ein sorgfältig gefaltetes, weißes Blatt Papier hervor, um es ihm zu geben.
Henry faltet es auseinander und beginnt, es stumm zu lesen.

Steckbrief

Name: Maxwell James Foster
Geburtstag: 12. September
Alter: 23
Geboren in: New York City, New York
Beruf: -
Lieblingsfarbe: schwarz
Lieblingstier: -
Lieblingsessen: alles mit Käse
Davon kann ich nicht genug bekommen: Küsse von Henry
Das mag ich: Ordnung
Das mag ich nicht: Chaos
Lebensmotto:

Schließlich schaut er auf und strahlt mich an. „Danke", sagt er schlicht. Ich lächele leicht, denn ich bin froh, dass er sich darüber freut. Ich mag es, wenn er sich freut.
„Kein Lieblingstier?", fragt er interessiert.
Ich schüttele den Kopf.
„Tiere sind unberechenbar und chaotisch. Das macht mich nervös."
„Selbst Fische?"
Ich zucke mit den Schultern. Fische sind mir egal.

„Ich mag den Punkt mit den Küssen", kichert er und küsst liebevoll meinen Mundwinkel. Meine Wangen werden wieder warm. Ich habe das aufgeschrieben, was mir einfiel und es gab nichts anderes. Da er Unehrlichkeit nicht mag, dachte ich, ich bin ehrlich.
„Ich bin langweilig", sage ich. Nicht traurig, denn ich war schon immer so. Es ist eine einfache Aussage.

Henry nimmt meine Hand und sieht mir in die Augen.
„Nein, Maxwell. Wärest du langweilig, säße ich nicht hier. Dein Leben ist vielleicht recht einfach strukturiert, weil du damit besser umgehen kannst, aber du bist alles andere als langweilig."
Wieder spüre ich, wie meine Lippen sich zu einem
Lächeln verziehen.

Ich glaube, so etwas Nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt. Menschen meiden mich in aller Regel. Ich ging nur für ein halbes Jahr in die Grundschule. Ich war ein sehr guter Schüler, zumindest, was Fächer betraf, die Struktur besaßen. Lesen und Schreiben konnte ich zu diesem Zeitpunkt bereits und auch in Mathematik war ich gänzlich unterfordert. Sport hingegen machte mir unglaubliche Angst und auch Kunst beunruhigte mich.

Nachdem ich bei einem Völkerballspiel schreiend in der Ecke saß, weil alle Kinder wild durcheinander rannten und ich nicht vorhersehen konnte, was als nächstes geschehen würde, musste meine Mutter mich abholen und mir versprechen, dass ich nie wieder dorthin zurückgehen musste.
Während ich auf sie wartete, standen die anderen Kinder in einem Kreis um mich herum, zeigten mit ihren schmutzigen Fingern auf mich, lachten und riefen Dinge wie „Freak" oder „Loser".

Danach bekam ich einen Privatlehrer.
Mr. Harridan war ein sehr geduldiger Mann. Er kam jeden Tag pünktlich zur gleichen Zeit. Ich musste nie Bilder malen oder Lieder singen. Später erfuhr ich, dass er eine spezielle Ausbildung für Pädagogik und Erziehung autistischer Kinder hatte. Ich mochte Mr. Harridan. Er war sehr verlässlich und drängte mich nie zu Dingen, die mich beunruhigten.

„Wo ist dein Buch?", fragt mich Henry.
„Es ist voll."
„Warum fängst du kein Neues an?"
„Es ist noch nicht Dezember. Dezember ist weinrot."
Henry steht auf und hält mir seine Hand hin. Fragend sehe ich ihn an.
„Wir kaufen dir ein neues Novemberbuch."
„Einfach so?"
„Einfach so, Maxwell."
„Was, wenn es kein rauchblaues Buch gibt?"
„Dann kaufen wir dir ein Königsblaues."

Ich überlege kurz. Mir fehlt mein Buch. Mir fehlt das Schreiben und es macht mich nervös, meine Gedanken und Beobachtungen nicht festhalten zu können. Aber ich brauchte noch nie ein neues Buch.
Zögerlich nehme ich Henrys Hand und lasse mich von ihm aus dem Park ziehen.

Im Buchladen lässt Henry meine Hand nicht für eine Sekunde los. Die vielen Menschen, die geschäftig durch die Gänge eilen und sich an uns vorbeidrängen, beunruhigen mich, doch Henrys warme Hand in meiner ist wie ein Anker für mich und ich bemühe mich, meine Konzentration darauf zu lenken.

Wir stehen in der Papeterie-Abteilung und Henry schaut auf die verschiedenen Notizbücher im Regal vor uns.
„Leider kein rauchblau", seufzt Henry. Ich nicke nur stumm. Er nimmt zwei Bücher in verschiedenen Blautönen heraus und hält sie in der Hand.
„Nachtblau oder Ultramarinblau?"
Ich zucke mit den Schultern, ich kann so eine Entscheidung nicht treffen. Ich brauchte noch nie ein neues Notizbuch.
„Ich mag Ultramarin", sagt Henry und hält eins der Bücher etwas höher. Wieder zucke ich mit den Schultern.

„Weißt du was? Wir nehmen einfach beide", lacht er mich an und klemmt sich die Bücher kurzerhand unter den Arm, um meine Hand wieder zu nehmen. „Ich brauche nur ein Buch", sage ich leise.
„Ja, jetzt. Aber vielleicht brauchst du später noch eins. Und wenn nicht, nehme ich es. Vielleicht. Es läuft nicht unter tsundoku", grinst Henry.
Wieder ein merkwürdiges Wort.
„Unter was?"

„Tsundoku. Das ist der japanische Ausdruck für jemanden, der Bücher kauft, sie aber dann nicht liest. Meistens stapeln sich die Bücher dann nur. In diesem hier steht ja nichts, also zählt das nicht, weil man es nicht lesen kann", erklärt Henry, während er vollkommen sorglos an der Kasse bezahlt.
Als wir wieder vor dem Geschäft stehen, gibt er mir den kleinen Papierbeutel, in dem die Kassiererin die Bücher verstaut hatte.
„Aufschreiben?", fragt Henry und ich nicke. Ich habe wirklich gerade ein großes Schreibbedürfnis.

„Dann gehen wir jetzt in das kleine Café, du bekommst einen Kaffee mit einer Tüte Zucker und kannst schreiben", bietet Henry an.
Seine Finger verschränken sich mit meinen und ich spüre, wie sich ein zufriedenes Lächeln über meinem ganzen Gesicht ausbreitet.

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt