Kapitel 59

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Chloe

Ich bin wie erstarrt. Eine Catcherin steht mitten im Zimmer und hält ein Messer an Hasseenahs Kehle. Ryan liegt bereits bewusstlos am Boden. Aus einer Wunde an der Stirn tropft Blut.
Bella kommt nun ebenfalls durch die Tür und will Ryan sofort helfen.
    „Keinen Schritt näher oder sie stirbt." Die Frau hat leicht asiatische Gesichtszüge und pechschwarze Haare, die vollkommen glatt bis zu ihrem Po reichen. Sie hat die Auftragskleidung der Catcher an und sieht mit ihrem stählernen Blick noch bedrohlicher aus.
    Hasseenah formt ein lautloses Hilfe. Meine Blicke gehen hektisch durch das Zimmer auf der Suche nach etwas, das uns helfen kann.
    „Die hier wird mit uns mitgehen und umgehend an die Senatorin übergeben. Sie steht kurz vor ihrer Abspaltung und ihr Beschützer wartet bereits unten. Untersteht euch zu versuchen uns aufzuhalten."
    „Was ist mit der Vereinbarung? Wir haben eine Galgenfrist", sage ich und versuche damit Zeit zu schinden, damit wir uns etwas überlegen können. Selbst Liv neben mir scheint überrumpelt.
„Diese Vereinbarung sah nur vor, dass ihr Bedenkzeit habt, ob ihr euch stellen wollt. Dass ihr die anderen Ordensmitglieder aufsucht, war nie Teil der Vereinbarung. Da ihr jetzt gegen den Vertrag verstoßen habt, ist er nicht mehr gültig. Wie wir mit den anderen Mitgliedern verfahren war nicht Teil des Vertrags." Ihre Stimme kreischt in meinen Ohren wie ätzendes Gift, das durch meinen Hörsinn noch verstärkt wird.
    „Das Ganze kann man nicht als Vertag betrachten. Wir haben nie zugestimmt. Ihr habt nur eine Galgenfrist ausgehängt." Meine Stimme wird so eisigkalt, dass es mir selbst einen Schauer über den Rücken jagt.
    „Oh doch meine Liebe das habt ihr. Ihr habt euch nie gegen den Vertrag ausgesprochen. Nun habt ihr selbst bestimmt, dass ihr lieber weitersucht, um den Orden zu vervollständigen. Und wie du gerade selbst gesagt hast, wir haben nur eine Galgenfrist ausgehängt." Die Frau macht ein paar Schritte weiter Richtung Fenster.
    „Es hieß: ‚Je nach euren Handlungen der nächsten Wochen wird zwischen lebenslänglicher Haft in Karkanir oder der sofortigen Hinrichtung entschieden'", zitiere ich.
    „Das hieß es in der Tat. Aber da ihr weitergesucht habt wurde entschieden, dass es zur sofortigen Hinrichtung kommt. Das macht wiederum den ganzen Vertrag zunichte, da er nun nicht mehr gebracht wird. Tote haben bei uns keine Rechte." Die Frau lacht ein abgehaktes Lachen. Ich sehe mich erneut vorsichtig im Zimmer um, um eine Waffe zu finden. Ich finde jedoch nichts. Meine Hände wandern langsam zu meinem Messer und die Frau schleicht weiter rückwärts auf das Fenster zu.
    „So war das nicht vereinbart", sage ich wütend als ich schon einen dünnen Rinnsal Blut Hasseenahs Hals hinunterlaufen sehe.
    „Gerade eben hast du noch gesagt, dass es keine Vereinbarung ist", sagt die Frau und grinst kalt. Ich ärgere mich selbst über meine Worte.
    Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihr nicht zugetraut habe, springt sie mit traumwandlerischer Sicherheit auf das Fensterbrett und lässt sich mit Hasseenah rückwärts hinunterfallen. Hasseenah kreischt auf und ich springe sofort hinterher. Die Catcherin verdeckt mit Hasseenah ihren Körper und ich habe keine andere Wahl. Der Beschützer steht bereit, um sie zusammen noch vor dem Aufprall weg zu teleportieren. Innerhalb von Millisekunden habe ich mich entschieden. Doch bevor ich mein Messer werfen kann schneidet die Catcherin Hasseenah die Kehle auf. Blut strömt daraus hervor.
    Sie treffen auf dem Boden auf und verschwinden. Zusammen mit Hasseenah.
    Doch plötzlich tauchen sie wieder auf. Hasseenahs Kopf hängt herab wie der einer Puppe und ihre Augen werden immer glasiger. Ihr Körper verdeckt immer noch den der Catcherin. Nur der Kopf der Frau ist frei.
    Ich habe mich schon vorhin dazu entschieden und muss es jetzt auch tatsächlich tun. Neben mir kommt Jayden auf. Er hat seinen Sturz mithilfe von Luft gebremst. Er wendet sich an den Beschützer.
    Ich zögere. Wenn der Beschützer mit Jayden kämpft kann auch die Frau nicht weg. Mein Messer liegt schon wurfbereit in meiner Hand. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht.
Dann wandern die Hände der Frau zu Hasseenahs Kopf. Eine an den Hinterkopf und die andere an Hasseenahs Kinn. Was sollte sie auch davon abhalten hier und jetzt Hasseenah zu töten. Sie merkt, dass sie keine Chance gegen uns haben und indem sie Hasseenah tötet, wird auch uns der Seher des Ordens genommen und wir müssen den neuen suchen.
    Das Gesicht der Catcherin verzerrt sich und die Luft um mich herum kühlt ab. Wenn sie nun Hasseenahs Nacken brechen würde, würde sie ihn nicht nur brechen, sondern komplett abreisen. Sie lacht abgehackt, weil sie erkennt, dass ich es nicht kann. Dann spannt sie die Muskeln an.
Ich schleudere.

Hasseenah liegt am Boden. Die Catcherin nebenihr. Der Griff meines Messers blitzt in der Sonne.
Jemand schreit über mir meinen Namen.Eine weibliche Stimme. Dann eine männliche, die Hasseenahs Namen ruft. Aber ichkann nicht reagieren. Ich höre Jaydens Stimme hinter mir und jemand andereslandet am Boden. Ich werde zur Seite geschupft und Bella kniet sich nebenHasseenah. Grün glitzernder Nebel tanzt um Hasseenah. Eine weitere Person renntan mir vorbei und Ryan stürzt sich auf Hasseenah.
    Wie ein Roboter bewege ich mich auf dieCatcherin zu. Ich umschließe den Griff meines Messers und ziehe es ruckartigaus ihrem Hals. Blut spritzt mir entgegen und ich höre ein schwaches Röcheln.Meine Reaktion ist schnell genug, um mit meinen Händen mein Gesicht zuBeschützen. Dafür klebt nun das Blut an meinen Händen. Ich bin wie betäubt.Dadurch, dass ich nicht den Mut hatte die Catcherin sofort zu töten. Durch meinZögern, muss Hasseenah nun sterben. Warum habe ich nicht genauer nachgedachtwohin ich sonst zielen könnte. Warum habe ich das Messer geworfen?
    Übermannt von meinen Gefühlen sinke ichzu Boden. Kalte Kieselsteine bohren sich in meine Haut, wie Krallen, bereitmich aufzuschlitzen. Meine Stirn beginnt zu bluten, weil ich meinen Kopf sosehr auf den Boden drücke. Oder hat er schon davor geblutet? Ich rolle michzusammen.
Ich kann die anderen jetzt nichtansehen. Ich würde es sogar verstehen, wenn sie sagen, dass ich gehen soll.Vermutlich habe ich es geschafft jemanden aus unseren Reihen zu töten. Zwarnicht durch meine Hand, dafür indirekt durch mein feiges Handeln. Ryan wird mirdas nie verzeihen. Warum sollte er das auch tun? Und wie soll ich mir jemalsverzeihen, dass ich dieser Frau aktiv das Leben genommen habe?
    Jemand setzt sich neben mich und legtmir eine Hand auf die Schulter. Es ist Jaydens Hand. „Chloe?" Seine Stimme istsanft und mitfühlend und voller Liebe. Das alles habe ich nicht verdient. Ichverdiene kein Mitgefühl und keine Sanftheit. Ich verdiene es nicht, dass manmir verzeiht.
    Jayden zieht mich zu sich her, aufseinen Schoß. Ich bin ihn dankbar dafür, auch wenn ich ihn am Liebstenanschreien würde, weil er mich immer noch liebt, trotz meiner Taten. Ich seheden bewusstlosen Beschützer. Jayden hat ihn wenigstens nicht getötet aber ich...
Eine weitere Hand berührt meineSchulter und eine zarte und sanfte Stimme sagt meinen Namen und sagt, dassalles gut ist.
    Ich sehe auf und will der Person schonschreiend sagen, dass gar nichts gut ist, da merke ich, dass es Hasseenah ist.Hasseenah so lebendig wie nie zuvor. Das bringt das Fass zum Überlaufen und ichschluchze haltlos. „Ich wollte sie nicht töten. Es tut mir so leid, so leid.Und..."
Hasseenah unterbricht mich. „Außerdemhat Bella ihr geholfen, sie wird wieder werden. Im Moment ist sie nochbewusstlos von dem Blutverlust. Hättest du es nicht getan dann wäre ich tot unddas wäre noch viel schlimmer."
    Ich atme zittrig vor Erleichterung aus.Ich habe sie also doch nicht getötet. Trotzdem kann mich im Moment nichtswirklich trösten außer, dass mich Jayden in den Armen hält. Der kurze Moment,indem ich glaubte sie wäre tot war genug für mich.
    „Lassen wir ihr Zeit", sagt Noah leisehinter mir. Ich spüre wie Jaydens Kopf nickt.   Wahrscheinlich auf dieunausgesprochene Frage von Noah.
     Jayden streicht mir über die Haare undküsst mich auf den Kopf. Ich atme seinen würzigen Geruch ein. Nichts undniemand könnte Jayden ersetzten. Ich versuche nicht mehr an die Frau neben unszu denken und versuche mich alleine an Jaydens Geruch zu orientieren.

Zuerst waren da die AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt