Kapitel 81

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Jayden

Ganze siebzig Begabte mussten am Ende der Überprüfung in einem Wald im Norden ausgesetzt werden, da sie Anhänger der Regierung sind. Alle neu hinzugewonnenen Leute sowie die meisten Gesuchten haben sich nach dem heutigen Trubel in den Höhlen schlafen gelegt. Morgen müssen wir sie alle von hier wegschaffen, da es hier zu gefährlich wird. Maddy wird sich bis dann wieder formiert haben und wird uns wieder jagen. Ich zweifle nicht daran, dass die heutigen Vorkommnisse sie davon abhalten weiter gegen uns vorzugehen.
    Chloe und ich haben unsere Hände verschränkt und sitzen zusammen mit den anderen Ordensmitgliedern vor dem Höhleneingang und halten Wache. Seit gut einer Stunde versuchen wir uns zu überlegen, wo wir die anderen Gesuchten finden könnten. Es ist immer noch unklar, ob sie alle bereits in Arkarnir sitzen oder ob sie noch rechtzeitig fliehen konnten. Wir haben allerdings keine Nachrichten gefunden, was uns aufatmen lassen würde. Mittlerweile wissen auch alle anderen, dass etwas nicht stimmt. Unter normalen Umständen wären wir heute schon wieder in unserem Versteck und könnten entspannt etwas im Speisesaal essen.
    Allmählich klinke ich mich aus der Diskussion aus. Für heute überlasse ich das Denken Liv und den anderen. Auch Chloe scheint der Meinung zu sein. Wir schweifen unseren Gedanken hinterher bis sich jemand hinter uns räuspert. Alle verstummen und bemerken die Zwillinge, die sich hinter uns gestellt haben.
    „Ähm wir würden gerne mit euch sprechen, Chloe und Rocco", sagt der Junge dessen Name ich immer noch nicht weiß. Ich zucke zusammen. Eigentlich sollten sie weder unsere Namen noch sonstiges über uns wissen. Was wissen sie noch?
    Wir machen Platz in unserer Runde und sehen die Geschwister erwartungsvoll an. Sie scheinen sich uneinig darüber zu sein wer von ihnen zu sprechen anfangen sollte, bis der Junge schließlich das Wort ergreift.
    „Wir sollten uns erst mal vorstellen. Ich bin Will Croft und das ist meine Schwester Jane. Wir sind beide neunzehn. Eigentlich kommen wir gar nicht aus Prest. Wir waren nur für ein paar Tage dort, um uns ein wenig auszuruhen. Seit nun drei Jahren ziehen wir umher auf der Suche nach...nun ja euch." Will macht eine kurze Pause. Seine Schwester boxt ihn in die Seite, weil er einfach mit der Tür ins Haus gefallen ist. Chloe legt ihren Kopf schief und mustert Will und Jane eindringlich. Will sucht eine bequemere Position wobei ich glaube, dass es nur an Chloes Blick liegt, der ihn nervös macht.
    „Was meinst du damit? Ihr wart auf der Suche nach uns. Vor drei Jahren war ich noch bei den Menschen." Chloes fordernder und ein wenig bedrohlicher Ton bringt Will dazu sofort zu antworten. Ich weiß, dass Chloe sich nicht so leicht mit dem Gedanken anfreunden wird, dass man sie gesucht hat und jemand fremdes mehr über sie weiß als sie von ihm. Allerdings macht mir dieser Gedanke auch sehr zu schaffen.
    „Unsere Großmutter ist eine der mächtigsten Seherinnen oder besser war. Sie wurde geradezu von Visionen bombardiert. Ihre letzten Visionen galten euch. Sie hat immer auf ein Blatt gemalt während sie Visionen hatte. Zuerst malte sie ein Bild von einem Jungen. Jane war dabei und unsere Großmutter sagte: Rocco. Du musst Rocco vertrauen. Es war ein Bild von dir Rocco." Rocco lässt sich nichts anmerken und hat nur wieder seinen bohrenden Blick aufgesetzt unter dem sich Jane nun windet.
    „Am Tag darauf hatte sie eine Vision, als ich bei ihr war. Diesmal hatte sie dein Bild gemalt, Chloe. Und wieder sagte sie: Chloe. Du musst ihr vertrauen."
    Ich massiere Chloes Hand, die sich in meine gekrallt hat, bis sie lockerlässt.
    „Was wisst ihr noch über uns?", fragt Chloe eisig. Wie auch mir gefällt ihr diese ganze Sache gar nicht.
    „Nichts", sagt Jane und Chloe zieht skeptisch die Augenbrauen hinauf. „Nun gut. Wie kommt ihr dann auf die Idee es so ernst zu nehmen was eure Großmutter gesagt hat? Wieso seid ihr sofort los gesprungen, um nach uns zu suchen? Für mich klingt das nicht sehr glaubhaft was ihr da erzählt."
    „Unsere Großmutter war die Mächtigste von allen und ihre Visionen waren immer von größter Bedeutung. Das war auch der Grund warum sie ihr Leben lang in Arkarnir eingesperrt war." Betroffen sehen Will und Jane zu Boden und in mir regt sich etwas. Es ist ein seltsames Gefühl und ich kann es zuerst nicht einordnen. Es ist als wäre das was Jane gerade gesagt hat der Ausschlaggebende Punkt.
    Liv keucht. „Ihr seid also die Enkelkinder der letzten Seherin des Ordens?"
    Verständnislos sehen Die Zwillinge an. „Von einem Orden haben wir noch nie gehört." Janes Stimme klingt verunsichert.
    „Aber natürlich. Eure Großmutter ist erst vor drei Jahren gestorben. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Tyler abgespalten. Versteht ihr? Von Peisione haben wir erfahren, dass sie alle erst vor kurzem gestorben sind, um genauer zu sein vor drei Jahren. Das passt alles zusammen. Als sie schließlich gestorben sind, sind ihre Kräfte auf uns übergegangen." Livs Euphorie ist ansteckend und der Knoten aus unpassenden Fragen in meinem Kopf löst sich.
    „Eure Großmutter muss noch etwas gewusst haben", überlegt Rocco. „Ich glaube mittlerweile, dass ich Tote leichter in unsere Welt zurückbringen lassen kann, wenn jemand bei mir ist, der ihnen nahegestanden ist. So war es zum Beispiel bei Kafka. Jayden hatte eine Verbindung zu Kafka und als ich ihn zu uns geholt habe war Jayden bei uns. Mit Jane und Will könnte ich eure Großmutter finden, damit wir mit ihr reden können. Deshalb war es auch wichtig, dass ihr uns findet."
    „Soll das der Grund sein, dass es so wichtig war euch zu finden. Nur damit ihr mit unserer Großmutter Kontakt aufnehmen könnt?", meint Jane gereizt und runzelt die Stirn.
    „Du kannst Tote für kurze Zeit in unsere Welt holen?", lenkt Will ab und er sieht hoffnungsvoll zu Rocco. Dieser nickt und Jane und Will packen sich an den Händen.
    „Das kannst du? Wie schaffst du das? Ich bin auch eine Botin, aber ich kann Tote nur hören und nicht sehen. Das höchste was ich schaffe ist sie als Schatten sichtbar zu machen oder sie durch mich hindurch sprechen zu lassen."
    „Liv kann euch das besser erklären", meint Rocco und stupst Livinna an, die in ihre Gedanken versunken nachdenkt. „Oh. Achso. Schließt eure Augen", murmelt sie und schließt auch ihre. Will und Jane tun es ihr gleich. Nach einer Minute öffnen alle drei ihre Augen wieder. Diesmal sehen uns Will und Jane anders an, ein wenig beängstigt.
    „Okay", sagt Rocco, nachdem wir einige Zeit uns alle gegenseitig befremdet angesehen haben. „Dann werde ich mal versuchen eure Großmutter zu finden."
    Roccos Augen werden Hämatitschwarz und Staub und Schmutz wirbeln durcheinander. Die Umgebung verdunkelt sich. Dennoch kommt von irgendwo her ein helles Licht, denn gleichzeitig strahlt alles grell. Wie von einem Wirbelsturm ergriffen wehen Äste, Steine und Staub in die Höhe und verschmelzen zu einer Masse. Eine Silhouette bildet sich und streckt ihre Arme und Beine. Mir fährt es kalt den Rücken hinab als sich die Gestalt aufbäumt und schließlich zu einer transparenten Jungen Frau wird.
    „Ist das eure Großmutter?", fragt Rocco und wirkt mehr als unsicher. Es scheint ihn wieder an seiner Begabung zweifeln zu lassen. Diese Frau muss etwa vom Aussehen ein fünfunddreißigjähriger Mensch sein. Unmöglich sie als Großmutter zu sehen.
    „Ja das bin ich mein Lieber. Ich habe nur den Körper meines jüngeren Ichs angenommen. Darin fühle ich mich wohler."
    „Seit wann kann man das Bestimmen?", fragt Rocco verdutzt.
    Die Frau streicht ihre Honigblonden Locken hinter ihr Ohr und lacht hell und melodisch. „Ach das kann man immer selbst wählen auf dem Weg in das Totenreich." Damit ist für sie das Thema beendet und sie wendet sich ihren Enkeln zu. „Oh meine Süßen! Ihr habt es tatsächlich geschafft." Entzückt sieht sie zu Rocco und Chloe. Will und Jane sind immer noch in einer Art schockstarre und sind deshalb nicht fähig zu antworten. In Janes Augen haben sich bereits Tränen gebildet.
    Da weder die Zwillinge noch sonst irgendwer in der Lage ist zu sprechen, ergreife ich das Wort.     „Wie sie sich sicherlich denken können haben wir einige Fragen bezüglich des Ordens an sie. Stimmt es, dass sie einst zu dem letzten Orden gehört haben?"
    Die Frau nickte. „Zunächst: Nennt mich doch bitte Margot. Und ja, so ist es. Damals war ich siebzehn Jahre alt als der Orden sich gefunden hat und man mich entdeckt hat. Das war 1890. Uns wurde von den letzten Mitgliedern des Ordens beigebracht wie wir unsere Kräfte gebrauchen mussten. Diesen Vorteil habt ihr nun leider nicht mehr. Leider bin ich gebunden und kann euch nicht mehr zu euren Kräften erklären." Sie wartet auf eine Antwort, doch als sie keine bekommt spricht sie weiter. „Anfangs haben wir kleinere Streitigkeiten aufgelöst und haben uns ansonsten zurückgezogen bis wir wieder gebraucht wurden. Der letzte Orden lehrte uns Bescheidenheit was jedoch nicht bei allen so geklappt hat, wie sie es geplant hatten. Phil, unser Elementor, meinte wir sollten die Regierung ersetzten, da wir ohnehin immer jedes Problem der Senatoren und Kanzler lösen mussten. Er war der Ansicht die Begabten mit der größten Macht sollten auch über eine Macht verfügen, die ihrer Begabung gleichkam. Wir haben uns allesamt gegen ihn gewendet und in seinem Zorn hat er sich alleine auf den Weg gemacht den Kanzler zu stürzen. Ich glaube das war 1911. Leider hat er das auch geschafft. Wie hätte er es nicht schaffen können? Wir wollten ihn aufhalten, aber waren zu spät. Ich wusste von Anfang an, dass wir zum Scheitern verurteilt waren. Ich hatte eine Vision, in der wir alle bereits in Ketten lagen, aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Der Kanzler starb und wie es nun mal mit von Macht trunkenen Menschen geschieht wollte er immer mehr bis es zum Krieg kam. Wie es von da an weiterging wisst ihr bereits."
    Liv legte den Kopf ein wenig schief. „Ja das wissen wir, aber ich habe noch nie von einem Kanzler in unserer Regierung gehört. Die Ranghöchsten sind doch die Senatorin. Wann wurde diese Regelung eingeführt?"
    Margot sieht Liv mitleidig an was mich und alle anderen wundert. „Meine Liebe. Es wurde nie von Phils Tod berichtet und er hat deshalb jeden einzelnen von unserem Beschützer manipulieren lassen, damit niemand Fragen stellt, die ihm Schaden könnten. Seit Phil an die Macht kam gab es nie eine neue Regelung sowie es nie einen Regierungswechsel gab."

Zuerst waren da die AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt