Kapitel 71

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Chloe

„Wie alt warst du zu diesem Zeitpunkt?", frage ich. Wir haben alle lange geschwiegen und ich versuche irgendwie dieses unbehagliche Schweigen zu brechen.
    „Siebzehn fast achtzehn. Wie gesagt, ich finde das war viel zu kurz und ich hätte viel lieber noch länger meine Fähigkeiten behalten und weiter mit meinen Freunden zusammen in dieser Welt gelebt."
    „Es ist schrecklich, dass jemand wie du nur so jung geworden ist. Ich meine du hättest den anderen Ordensmitgliedern helfen können. Du warst in deiner besten...Zeit oder Verfassung." Bella steht immer noch verkrampft neben Noah und klammert sich an seinen Arm. Sie meidet es in die Richtung von Kafkas Leichnam zu blicken.
    „Ja es ist schrecklich. Aber Im Krieg ist es unvermeidlich, dass jemand stirbt oder habt ihr etwa geglaubt, dass ihr alle heil da wieder rauskommt?" Peisinoe lacht ihr helles Lachen. Es ist melodisch und schön, aber es liegt auch etwas gefährliches darin. „Eines könnt ihr mir glauben, diesen Krieg könnt und werdet ihr niemals alle überleben. Mindestens einer vom Orden wird sterben. Zu meiner Zeit war es ich, die sterben musste."
    Diese Worte tragen keineswegs dazu bei, dass ich mich besser fühle. Schlimmer noch, ich bekomme noch mehr Angst um meine Freunde. Wir alle wollen kämpfen, aber die Angst zu sterben ist auch präsent. Nicht nur die Angst, dass man selbst stirbt, sondern auch, dass ein Freund stirbt. Bisher hat es niemand laut ausgesprochen, aber jetzt hat es Peisinoe getan.
Ich schlucke einen Kloß herunter. „Ich glaube wir sollten jetzt dann gehen."
    Rocco seufzt erleichtert auf und Peisinoe verschwindet.

Auf dem gesamten Rückweg sagen wir nur das nötigste bis gar nichts. Ohne dass jemand etwas sagen muss, gehen wir in den Speisesaal. Es wird bereits das Mittagsessen serviert. Meine Eltern winken mir zu und ich setze mich zu ihnen.
    „Was ist denn los, Schätzchen?", fragt meine Mom besorgt. Zwischen ihren Augen hat sich eine Falte gebildet.
    „Ach nichts", sage ich und versuche zu Lächeln. Ich weiß, dass meine Mom mir das nicht abkauft, aber sie sagt nichts mehr zu dem Thema.
    „Die Gesuchten möchten, dass wir wieder in die Menschenwelt zurückkehren", sagt Dad. Ich zucke zusammen. „Ihr werdet aber weiterhin beschützt, oder? Die Regierung kann immer wieder zurückkommen und euch wieder gefangen nehmen." Mir ist bewusst, dass meine Eltern nicht länger bleiben können. Sie werden bald anfangen sich von dieser Welt abzustoßen. Schließlich sind sie immer noch Menschen und keine Begabte. Sie kommen nur mit den Begabten zurecht, weil ich hier bin und meine Abspaltung noch nicht lange her ist. Eltern können ihr Kind nicht verachten und stehen deshalb noch eine kurze Zeit unter einem Schutz.
    Ich habe Dad bereits dabei beobachtet wie er einen Begabten wütend angesehen hat, weil dieser ihn angerempelt hat. Es war nichts Großartiges, aber dennoch ein Anzeichen. Schließlich bin ich schon bald ein Jahr hier.
    Bald schon ist der Moment gekommen, indem ich mich von meinen Eltern verabschieden muss. Wir stehen in einem Halbkreis um eine glatte Felswand. Meine Hände umklammern die meiner Eltern. Angst steigt in mir auf und ich weiß nicht genau wieso. Ich kann diese ganz neue Art von Angst nicht einordnen. Ist es, weil ich ab jetzt endgültig von meinen Eltern getrennt werde und ich auf mich allein gestellt bin? Naja, auf mich allein gestellt bin ich nicht wirklich, aber ich verliere meine Eltern und das ist eine ganz andere Sache. Aber ich habe mich doch schon vor über einem halben Jahr damit abgefunden. Oder etwa doch nicht? Habe ich tief in meinem Inneren noch immer gehofft sie wenigstens einmal noch zu sehen?
    „Du musst unbedingt auf dich aufpassen, Schätzchen", sagt Mom und küsst mich auf die Stirn. Ihre Hände zittern ein klein wenig und sie versucht es zu verstecken. Ich nicke nur, weil meine Stimme mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr zittrig klingen würde. Der Kloß in meinem Hals sitzt fest und ich kann ihn nicht herunterschlucken. Ich hasse es zu weinen. Ich hasse es Schwäche zu zeigen. Das wiederum war immer schon meine große Schwäche. In manchen Situationen ist es ganz hilfreich. Man kann andere nicht auch zum Weinen bringen, aber einen selbst nimmt das nur noch mehr mit.
    Im Moment fühle ich mich nur noch klein und schwach, nicht wie die mächtigste Catcherin zu dieser Zeit. Würde mich nun jemand angreifen würde er mich mit Leichtigkeit töten können.
Meine Brust krampft sich schmerzhaft zusammen und ich hole tief Luft. Wie jedes Mal, wenn ich kurz vor dem Weinen bin, lege ich meinen Kopf in den Nacken und versuche mich zu entspannen.
    „Oh Schätzchen nicht weinen", sagt Mom und nimmt mich in den Arm. Sie kennt meine Gewohnheiten zu gut, als dass ich vor ihr meine Gefühle verbergen könnte.
Mom tritt einen Schritt zurück und Dad nimmt mich in den Arm. „Du wirst mir, uns so fehlen." Krächzend gebe ich eine Antwort. „Ihr mir auch."
    „Wir müssen nun leider aufbrechen", sagt einer der Catcher hinter mir. Meine Eltern werden bis zu ihrem Haus von insgesamt fünf Catchern und vier Beschützern begleitet. Sie warten nun fünf Minuten hier, während ich versuche mich für einen kleinen Moment zusammenzureißen, um meine Eltern gehen zu lassen, ohne ihnen noch mehr das Herz zu brechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Herz noch mehr gebrochen werden könnte wie meines gerade bricht.
    Jayden streicht über meinen Arm. Er hat darauf bestanden mich zu begleiten. „Ich hätte mir damals auch jemanden gewünscht, der bei mir ist", hatte er gesagt. Mit damals meinte er, als seine Eltern von der Regierung verschleppt wurden. Man kann diese Situationen zwar nicht direkt miteinander vergleichen, aber es kommt auf dasselbe hinaus. Am Ende verliert man sie.
Ich drücke Mom und Dad so fest an mich, dass ihnen die Luft wegbleiben muss. Der Schritt, den ich nun von ihnen zurückgehen muss, ist so schlimm, dass ich strauchle. Jayden hält mich fest und zieht mich an sich. Er küsst mich auf meinen Kopf.
    Meine Mom lächelt Jayden an. Auch Dad lächelt ihn an. „Pass gut auf unsere Tochter auf. Ich weiß, dass du es kannst."
    „Das werde ich. Immer."
    Dann sind sie verschwunden.
    Ich frage mich, ob man das damit vergleichen könnte, wenn jemand geliebtes stirbt. Vor einigen Jahren saß ich abends mit meinen Eltern zusammen und habe ein Brettspiel gespielt. Es war neun Uhr als das Telefon klingelte. Meine Mom hat verwundert über den späten Anruf den Hörer von der Gabel genommen. Ihre Stimme war verunsichert. Zwischen ihren Augen hatte sich eine Falte gebildet. „Dann ist es also passiert", hat sie gesagt und sich an der Küchentheke angelehnt. Dad ist aufgestanden und zu mir herumgekommen. „Ist es jetzt passiert?", frage ich ihn. Ich habe es noch nicht ganz fassen können. Dad nickte und presste seine Lippen aufeinander. Mom legte den Hörer auf und kam zu uns. „Es ist passiert. Opa ist im Schlaf gestorben."
    Es ist passiert. Dieser Satz ist komisch und passt nicht recht zu der Situation. Noch heute höre ich wie ihre Stimme diesen Satz in den Hörer sagte. Noch heute weiß ich wie ich denselben Satz für die Frage verwendet habe. Dieser eine Satz ist für mich bis heute der schlimmste Satz, den ich hören kann.
    Es ist passiert. Es klingt eher danach, als würde jemand stolpern, obwohl er vorher sogar noch gesehen hat, dass dort vorne eine Wurzel herausragt. „Jetzt ist es doch passiert", würde dieser sagen. Es ist ein zu alltäglicher Satz. Mom hat diesen Satz, dieses Wort, passiert, gewählt, weil dieses abrupte Verschwinden, dieser abrupte Tod, zu schnell ging. Wir haben es zwar schon Wochen vorher gewusst, denn Opa hatte Krebs, der immer schlimmer wurde, sich immer weiter ausbreitete. Aber doch trifft es einen, wenn dieser geliebte Mensch von einem auf den nächsten Tag verschwindet. Man wird ihn nie wiedersehen. Nie wieder.
    Als ich Opa das letzte Mal gesehen habe war er dünn. Sein Hemd hing ausgeleiert an ihm herunter. Er saß in seinem Lieblingssessel. Seine Wangen waren eingefallen. Ich bin erschrocken, weil so offensichtlich langsam das Leben aus ihm wich.
    An diesem Tag habe ich Kuchen gemacht. Apfelkuchen. Er hat meinem Opa so gut geschmeckt, dass er das ganze Stück essen musste, obwohl er nicht mehr konnte. „Der ist so gut. Den muss ich ganz essen", hatte er gesagt und mich liebevoll angelächelt. Jetzt im Nachhinein glaube ich, dass er das nur gesagt und getan hatte, weil er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte und mir eine schöne Erinnerung an ihm zu lassen. Und dafür liebe ich ihn, denn es ist ihm gelungen.

Ich vergrabe mein Gesicht an Jaydens Schulter. Sobald meine Eltern verschwunden sind haben sich die ersten Tränen in meinen Augen gebildet. Kurz darauf habe ich haltlos weinen müssen. Jaydens Arme halten mich fest und streichen mir langsam über das Haar. Man hat uns allein hier zurückgelassen. Keiner der Catcher und Beschützer ist bei uns geblieben was ich zuerst ein wenig hartherzig finde, aber was hätten sie auch tun können. Im Moment will ich niemanden bei mir haben außer Jayden.
    Ich hasse es Schwächen zu zeigen. Ich werde sie auch niemals jemand anderem zeigen als Jayden. Kara habe ich sie auch zeigen können, aber sie erkennt mich jetzt kaum noch. Das ist mindestens so schlimm wie einen geliebten Menschen zu verlieren.
    Jayden und ich sind uns in dieser Sache ziemlich ähnlich. Auch er möchte niemandem seine Schwächen zeigen. Er versteht mich in dieser Hinsicht besser als jeder andere. Wenn wir zusammen sind, können wir einander alles zeigen. Auch wenn es nicht ganz offensichtlich war, war es immer so. Jayden hat nicht vielen von dem Verlust seiner Eltern erzählt. Außer mir weiß es kaum noch jemand. Natürlich Noah, er ist in etwa das für Jayden was Kara für mich ist. Oder viel mehr war.
    Durch meine Verpflichtung bleibt mir nicht viel Zeit, um meine Eltern zu trauern. Heute soll das erste Flugblatt oder wie es Leonardo gerne nennt Wolkenblatt losgeschickt werden.
    Zusammen mit drei Anführer und dem gesamten Orden treffen wir uns nahe eines großen Sees, damit Jayden möglichst viel Wasser zur Verfügung hat. Leonardo lehnt an einem großen Felsen, seinen Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Er öffnet diese und das übernatürliche Blau seiner Augen sticht hervor. „Da seid ihr ja endlich. Wir haben schon gedacht, dass ihr nie kommt." Mein giftiger Blick bringt ihn zum Schweigen.
    „Ihr wisst was ihr zu tun habt?", fragt einer der Anführer mit tiefer und fester Stimme. Jayden und Leonardo nicken.
    Jayden stellt sich an das Ufer und breitet seine Arme aus. Das Wasser wirft immer mehr Blasen und kaum sichtbare Wolken steigen auf und bleiben über unseren Köpfen in der Luft hängen. Sie werden immer dichter bis sie wie eine unförmige weiße Masse aussehen. Die Wolke wird gigantisch groß. Jayden zieht nicht nur noch aus dem See Wasser, sondern auch aus dem Boden und den Pflanzen. Immer nur so viel, dass sie auch überleben können. Mittlerweile ist die Wolke so groß wie zwei Fußballfelder. Große Fußballfelder wie aus Arenen. Allmählich verdünnt sich der Rauch an manchen Stellen, an anderen wiederum wird er dicker. Es formen sich Worte. Gut überlegte Worte. Worte, die Menschen beeinflussen und verunsichern können.

Wenn ihr glaubt die Regierung zu kennen, liegt ihr falsch. Schließt euch den Gesuchten an und ihr erfahrt die Wahrheit. Wenn ihr glaubt alles zu wissen, liegt ihr wieder falsch. Der Orden der zehn wird euch helfen. Nur der Orden der zehn hat die Macht diese Diktatur zu beenden.

Die Worte schwellen auf die dreifache Größe an. Jetzt kommt Leonardos Einsatz. Er hebt nun ebenfalls die Hände. Die Worte werden klarer. Scharfe Linien trennen Wolke von Luft. Die Worte stehen nun in der Luft wie gedruckt auf Papier. Leonardo zwängt die Buchstaben in eine Form. Kein Lufthauch kann sie nun noch verändern. Die Buchstaben können nicht mehr verschwinden oder durcheinander gebracht werden. Sie existieren nun und können von gewöhnlichen Begabten nicht mehr gelöscht werden. Nur Jayden und Leonardo zusammen haben die Macht sie verschwinden zu lassen.
    Jaydens Muskeln spannen sich an und er wirft etwas Unsichtbares in die Luft. Mit atemraubender Geschwindigkeit saust das Wolkenblatt in die Höhe. Es ist gut zu lesen, selbst in dieser Entfernung. Heftiger Wind kommt auf und das Wolkenblatt bewegt sich in Richtung Osten.

Zuerst waren da die AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt