Kapitel 87

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Chloe

Ich wusste, dass ich getötet werde. Ich wusste aber auch, dass ich die Chance auf die Rettung der Menschen nicht verstreichen lassen konnte und so habe ich mich entschieden. Hier auf der anderen Seite bei den Geistern ist es ruhig und die Stille ist so wunderschön.
    Erst nach einer Weile verstehe ich, dass ich als Geist, unsichtbar vor meinen Freunden stehe, die um mich trauern. Entsetzt sehe ich Karas Leiche. Sie hat die Blockierung deaktiviert. Wie unheimlich dankbar ich ihr doch bin. Aber dennoch. Liam wird es das Herz brechen. Ich schwebe im Moment wie auf einer Wolke und kein Gefühl nicht einmal Trauer über meine tote Freundin kann mich überkommen. Diese Schwerelosigkeit und Friedlichkeit ist wie eine Sucht und ich will mehr davon.
    Erschrocken merke ich erst jetzt wie Jayden und Rocco über mich gebeugt schluchzen.
    Dann sagt Rocco etwas zu Jayden und seine Augen werden schwarz.
Was hat er nur vor? Will er mich sichtbar machen? Dann kann ich wenigstens erklären, warum ich es getan habe.
    Rocco sinkt neben meinem Körper zu Boden und dann taucht ein zweiter Rocco neben mir auf.
    „Chloe", sagt er und fällt mir in die Arme. „Hast du den blassesten Schimmer wie wütend ich auf dich bin."
    „Ich weiß", sage ich. „Aber ich hatte keine Wahl. Jemand musste ihn umbringen und ich habe als einzige gemerkt, dass ich meine Kräfte wiederhabe, weil ich Kara gehört habe. Hätte ich euch gewarnt wären wir alle auf der Stelle tot. Allesamt erschossen von den eigenen Eltern."
Rocco nickt an meinem Hals. Dann sagt er: „Du musst in deinen Körper zurück."
    „Was...Warum? Moment mal was tust du hier?"
    „Vertrau mir", sagt er nur und in seinen Augen stehen Tränen. Er schiebt mich auf meinen Körper zu und in dem Moment wo ich ihn berühre verschmelze ich mit ihm.

Ich schlage meine Augen auf und gleichzeitig schließt Rocco seine Augen.
    Ich setze mich auf und Gesichter dessen Verwirrung mit der Hand zu greifen sind sehen mir entgegen. Will lässt sogar mein Messer, das er aufgehoben hat, fallen.
    Ich sehe zu Rocco.
    „Er ist tot", sagt Bella ohne wirklich zu verstehen was sie da sagt.
    Dann stürzt Jayden sich auf mich. „Um Himmels Willen! Du warst tot. Oder etwa doch nicht?"
    „Ich war tot", sage ich und dann erfasst mich das Verstehen.
    „Oh nein. Rocco hat sich gegen mich eingetauscht. Er hat meinen Platz in der Welt der Geister eingenommen. Wie konnte er nur?"
    Nun war ich diejenige, die sich weinend auf Rocco wirft.
    „Wie konntest du nur?", schreie ich sein totes Ich immer wieder wütend an. Ich war bereit gewesen zu sterben. Er dürfte jetzt nicht hier liegen.
    Allmählich verschwindet sein Tattoo, es zieht sich zurück wie eine Schlange in ihr Versteck zwischen den Blättern und plötzlich hören wir Jane aufschreien.
    Ein Tattoo entsteht auf ihrem Arm.

Wir haben die Leichen von Kara und Will zu der von Rocco gelegt und haben uns um sie herumgesetzt. Die Trauer über Karas Tod wird jetzt übermächtig und ich zittere am ganzen Körper. Meine Schluchzer werden immer lauter und die Verzweiflung in mir zerreißt mich. Erst jetzt bemerke ich, dass Liam ebenfalls das Zimmer betreten hat. Sein erster Blick galt jedoch Kara. Ich schlucke heftig als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht sehe. Zuerst glaube ich es kommt von seinen Wunden. Quer über sein Auge von der Stirn bis zum Kinn ist eine tiefe Schnittwunde, die bis zum Knochen offen ist und aus der es immer noch blutet. Ich merke wie eine Last von meinem Herzen fällt. Ihm geht es gut. Doch dann erkenne ich den wahren Grund für sein schmerzverzerrtes Gesicht und ich bin sofort bei ihm und halte ihn so fest ich kann.
Viel zu schnell werde ich aus diesem Moment gerissen, indem ich endlich meine Trauer auslassen kann. Jemand packt mich von hinten und drückt mich in der nächsten Sekunde gegen die Wand. „Du warst das, hab ich recht?"
    Es ist Anführer Cole, der eben durch die Tür neben uns gestürmt ist. 
    Meine Wut ist aufgebraucht. Ich bin zu müde, um jetzt noch wütend zu sein also sehe ich ihn aus meinem Tränenschleier spöttisch an.
    Bevor ich auch nur irgendetwas tun kann ist Liam bei mir und bricht Cole mit wutverzerrtem Gesicht das Genick. Liv muss ihm alles in Gedanken gezeigt haben.
    Ich lasse mich an der Wand hinuntergleiten und rolle mich zusammen. Liam setzt sich neben mich und nimmt mich in seine Arme. Unsere Tränen sind versiegt. Jayden und Noah, Liv und Leonardo, Bella und Hasseenah und Jane, Beat und Tyler halten sich in den Armen. Unsere Kräfte sind aufgebraucht. Eine seltsame Leere erfüllt mich und noch nie im Leben habe ich mich so emotionslos gefühlt. Einen kurzen Moment denke ich daran, wie schön es war als Geist von jeglichem Gefühl befreit gewesen zu sein, doch dann sehe ich meine Eltern, die sich verwirrt umsehen und dieser Gedanke verschwindet wieder.

Jayden

Für jeden Toten haben wir ein Grab ausgehoben. Von unserer Seite sind von sechshundert noch knappe Zweihundert übrig geblieben, aber trotzdem haben wir für jeden ein eigenes Grab errichtet.
    Nur eine einzige Person gehört nicht zu den Gesuchten. Es war Chloes Wunsch, dass wir ihn ebenfalls begraben. Es ist ein Junge. Etwa siebzehn Jahre alt dessen Kopf mit einem Messer gespalten wurde. Ich habe Chloe gefragt, warum ausgerechnet er, aber sie wollte nicht darüber sprechen und so habe ich sie nicht weiter bedrängt.
    Als wir fertig sind betrachten wir, die zweihundert Überlebenden, den Friedhof. Jane stellt sich vor die Menschen und ihre Augen werden schwarz. Ein Geist nach dem anderen taucht vor seinem Grabstein auf. In ihren Augen schimmern Freudenstränen, aber auch Schmerz.
Als Will auftaucht gerät Jane ein wenig ins Straucheln, fasst sich aber schnell wieder. Auch Kara erscheint und Liam ist sofort bei ihr.
    Roccos Blick ruht nur kurz auf dem Stein, dann sieht er zu Chloe, die ihn wütend und zugleich liebevoll ansieht.
    Ich drücke ihre Hand bevor sie zu ihm geht. Ich bleibe stehen und beobachte sie einfach nur. Chloe sagt etwas und nimmt dabei Roccos Hände in ihre. Was auch immer sie sagt es muss schön sein, denn Roccos Augen füllen sich mit Tränen und er lächelt. Er sagt etwas und dann nimmt er sie ihn seine Arme.
    Meine frühere Rivalität zu ihm habe ich vergessen und finde ich nun lächerlich. Wie er Chloe ansieht und was er für sie getan hat zeigt, dass er Chloe genauso sehr liebt wie ich sie. Ich selbst hätte nichts anderes getan, wenn ich die Chance gehabt hätte Chloe zu retten. Ich bin ihm unglaublich dankbar. Er hat nicht nur Chloe das Leben wiedergeschenkt, sondern er hat auch mir ein Leben mit ihr geschenkt. Dieses Geschenk ist so kostbar, dass ich es fast nicht annehmen kann.
    Chloe kommt wieder an meine Seite. Ich wische ihr eine Träne von der Wange und nehme dann ihre Hand. Ich wende meinen Blick wieder Rocco zu, der mir ebenfalls entgegensieht. Ich brauche keine Worte, um meine Dankbarkeit ihm zu übermitteln. Er versteht es auch so und nickt mir zu kurz bevor er zusammen mit den anderen Geistern verschwindet.

Zuerst waren da die AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt