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Natürlich blieb es nicht unbemerkt wie wir dort saßen. Schon kurz danach kamen zwei Betreuer angerannt und nahmen Tim mit. Schon als wir die Schritte hörten machten wir aus, dass kein Wort was wirklich passierte an die Therapeuten kommen sollte. Kein einziges. Nur die einfache Lüge, dass Tim etwas schwarz vor Augen wurde durch das Rauchen, was er so abrupt wieder anfing. Seine roten Augen schoben wir auf eine normale depressive Phase. Wahrscheinlich glaubten sie uns nicht, doch sie konnten aus uns nicht die Wahrheit rausquetschen und mussten sich mit unserer Geschichte zufriedengeben. Und jetzt sitze ich wie früher als Tim noch nicht hier war auf der Fensterbank und starre nur nach draußen. Wir hätten uns nicht kennenlernen dürfen. Wäre ich nicht gewesen, dann ginge es ihm bestimmt besser. Ich hätte ihn nie zum Weinen gebracht, ich hätte ihn nie angeschrien, wegen mir hatte er sich geschnitten, wegen mir... Wie gerne würde ich mich jetzt betäuben. Egal ob es Medikamente, Alkohol, Drogen oder auch Schmerz ist. Ich will nichts mehr fühlen. Ich will nicht mehr wissen wer ich bin. Nicht mehr wissen was ich tat.
Warum habe ich immer meine Zeiten wo ich tatsächlich nichts mehr spüre, außer die Schmerzen in meinem Bauch und gleichzeitig die Zeiten wo alles auf mich hinabfällt und zertrümmert. Es ist nicht wie ein eiserner Hammer, der auf mich donnert, sondern eher wie Stromimpulse, die mich treffen. Sie pulsieren, dass ich sie aushalten kann, doch dann strömen sie durch meinen Körper und Geist, dass ich nur paralysiert irgendwo sitze und nachdenke. Ich hasse es wirklich so zu sein. Meist kommen die Schockwellen so unverhofft, so plötzlich. Einmal war es ein Moment, der so banal war, dass ich am liebsten darüber lachen würde. Problem daran war, dass dieser Moment meine Geheimhaltung kostete. Ein Abend wie jeder andere. Ich zockte mit ein paar Freunden ein paar Runden eines x-beliebigen Spiels. Alles war gut, es war lustig, eigentlich die einzigen Zeiten, wo ich Spaß hatte, wo ich sogar relativ glücklich war. Gut, glücklich war übertrieben, eher- eher zufrieden. Nicht mit mir, aber mit dem was ich tat. Entspannt zocken, sich hin und wieder aufregen, doch einfach zusammen sein, ohne dass jemand einen sieht. Es war reine Liebe. Liebe hinter die ich mich verstecken konnte. Wenn ich nicht in der Uni war, dann war ich am Pc. Wenn ich mich nicht leiden konnte, dann war ich am Pc. Wenn ich mich eigentlich mit Freunden treffen sollte, dann war ich am Pc. Meine Stimme ist wenigstens etwas erträglicher als meine ganze Person. Ich vermisse meine Tastatur und Maus.
An diesem Tag aber war plötzlich alles anders. Zwar war es eigentlich eine ganz normale Runde, ich war sogar am Gewinnen, doch dann durchzogen mich die Ströme. Sie hypnotisierten mich, dass ich die Fragen meiner Freunde nicht hörte. Wahrscheinlich waren sie erst amüsiert, bis sie sich Sorgen machten, denn als die erste Nachricht auf meinem Handy kam, erwachte ich ein Stück weit. Reden konnte ich nicht. Es reichte nur zum Ausloggen, Teamspeak verlassen und den Computer runterzufahren. Dann saß ich da. Minuten, Stunden, ich weiß es nicht. Es kamen Nachrichten, Anrufe von ihnen, sie waren besorgt um mich. Ich hatte sie vorher noch nie so verängstigt um mich erlebt. Keiner machte sich je um mich Sorgen, dann plötzlich aus heiterem Himmel. Noch nie habe ich es verstanden, dass mich jemanden mögen könnte und mein Freund sein kann, doch Sorgen machen war auf einer ganz anderen Ebene. Es konnte nicht sein. Ohne dass ich damit rechnete klingelte es nach Stunden. Erst da merkte ich, dass es längst dunkel war. Erst ignorierte ich dass die Klingel ging, auch wenn dieser jemand immer penetranter klingelte. Irgendwann klopfte er sogar, dass ich es nicht mehr ignorieren konnte. Also schlürfte ich zur Wohnungstür, trat ein paar Klamotten weg auf dem Weg und blickte durch den Spion. Mir stockte der Atem. Er konnte es nicht sein, doch er war es. Ein guter Freund, der eigentlich aus Köln kam fuhr zu mir nach Karlsruhe. Nicht einmal die Leute, die in Karlsruhe lebten kamen, aber er kam. Ich verstand es nicht und werde es nicht verstehen. Er schrie noch, dass er wüsste dass ich da bin und ihn nicht ignorieren solle. Nervös machte ich die Tür auf, sehr zaghaft, sehr langsam, doch er umarmte mich direkt, was er noch nie gemacht hatte. Und ab diesem Zeitpunkt war meine Heimlichkeit vorbei, mein angenehmes Leben wo jeder dachte, dass alles gut sei war vorbei. Einfach so. Ich hatte immer gedacht, dass es rauskam, weil ich umkippte oder weil ihnen auffiel, dass ich immer ‚keinen Hunger' hatte. Aber dass es so endet. Heute würde ich darüber lachen wollen, jedoch kann ich es einfach nicht.
Tobi umarmte mich und fühlte meine Knochen, was nicht schwer war, da ich nur ein T-Shirt anhatte, keine Hoodies wie jetzt. Je dicker der Stoff, desto weniger fällt meine Krankheit auf. Außerdem sind sie gemütlicher, zumal ich so schnell friere. Selbst im Sommer ist mir manchmal so kalt, sodass ich immer eine Jacke mit dabei hatte. Es warf zwar Fragen auf, als Tobi mich dann aber umarmte wurden diese Fragen das erste Mal ehrlich beantwortet. Wie geschockt sein Gesicht war... Dieses Gesicht vergesse niemals. Es war der blanke Horror, ja er hatte sozusagen Angst vor mir. Ich war nicht mehr der Mensch der ich für ihn immer war. Der fröhliche, unbeschwerte Stegi. Klar war es immer eine Lüge gewesen, eine jahrelange Lüge, solange man diese aber glaubt war alles für mich gut. Nach ein paar Minuten nach dem Realisieren fing er an zu weinen... So bitterlich, dass ich manchmal seine Stimme noch im Ohr habe. Das schlimmste war aber, dass ich kaum darauf reagiert habe. Ich ließ ihn an der Tür alleine und setzte mich zurück auf meinen Stuhl, nur um in die Gruppe zu schreiben, dass alles gut war und alle glaubten es. Mal wieder. Erst als Tobi schrieb, dass nicht alles gut war glaubten sie mir alle nicht mehr, denn ab diesen Zeitpunkt war ihnen allen klar, dass ich nur ein dreckiger Heuchler war. Im Nachhinein würde ich mich gerne bei Tobi entschuldigen, ich meine das was ich tat war weder fair noch verdient. Allein dass er die Fahrt auf sich genommen hatte... Er räumte für mich meine viel zu unordentliche und verdreckte Wohnung auf, ging für mich einkaufen, kochte für mich und ich? Lag nur rum, meckerte wie kalorienvoll die Sachen waren die er eingekauft hatte und aß das Essen von ihm nicht. Noch ein Punkt auf der Liste an Sachen für die ich mich jetzt hasse und für die ich mich entschuldigen muss, obwohl das rein gar nichts wiedergut machen würde. Scheiße... Was passiert, wenn ich wieder entlassen werde?
Meine Gedanken werden endlich unterbrochen, als die Tür aufgerissen wird und Tim erzürnt erscheint.

Good boys don't eat {Stexpert}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt