XII: Vertrauen

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Leise öffnete Nico die Tür zu dem kleinen Zimmer ganz hinten in der Krankenstation, schlüpfte hinein und atmete erleichtert aus. Auf dem Weg hier her war er zwei Mal fast von den Harpyien entdeckt worden. Er wusste nicht, ob er überhaupt genießbar für diese Fiecher war, aber ausprobieren wollte er es noch weniger.

Nico wandte seine Aufmerksamkeit jetzt dem kleinen Raum vor sich zu.
Den meisten Platz nahm ein Krankenbett mit weißen Vorhängen davor ein, neben diesem stand ein Stuhl und ein kleines Regal, was vollgestopft mit irgendwelchen Fläschchen und Dosen war. Zwischen der Tür und einem angekippten Fenster war ein Waschbecken angebracht.
Nicos Blick blieb an einem großen Zettel hängen der an die Scheibe geklebt war. Er nahm ihn ab und stellte sich so hin, dass das Mondlicht den Zettel beleuchtete.
Das Deckenlicht anzumachen, traute er sich nicht.
Zum Glück konnte er im Dunkeln einigermaßen gut sehen, dennoch musste er die Augen zusammen kneifen, um den Brief lesen zu können:

"Nico. Wenn du dich wirklich hierher getraut hast... Bist du lebensmüde oder so?! Es sind nicht nur die Harpyien, die dich im Moment gerne umbringen würden, vergiss das ja nicht. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Frank morgen herkommt, auf Grund der ungewöhnlichen Lage."
Nico musste zugeben, dass ihn die ungewöhnliche Lage im Moment eher weniger juckte, aber er las trotzdem weiter.
"Er bleibt bis zum Ende des Sommers.", verkündete ihm Reynas geschwungene Schrift.
"Eigentlich wollten wir eine Konferenz mit Chiron über Iris-Botschaft abhalten, aber die Verbindung ist schlechter als die bei meiner Oma, die irgendwo hinter Washington DC in den Büschen sitzt. Will ist schon ein paar mal wach gewesen, also komm mal runter. Und sei vorsichtig. Wir sehen uns vielleicht morgen. -Reyna."

Nico stopfte den Zettel ungeduldig in seine Hosentaschen und lief zum Bett hinüber. Er zog die Vorhänge zur Seite und bei Wills Anblick zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen.
Der Sohn des Apollo war seltsam bleich und die Wunde an seinem Unterarm war mit einem dicken Verband verbunden. Nicos Hand nährte sich vorsichtig dem verbundenen Arm, als die Wunde plötzlich durch den Verband hindurch zu dampfen begann.

Er zog seine Hand schnell zurück, während der weiße Stoff sich langsam rot färbte. Nico schaute sich blitzschnell um, sein Blick blieb an einer Reihe frischer Verbände hängen.
Er wollte sich schon ein paar nehmen und Wills Arm neu verbinden, doch wahrscheinlich würde eine Berührung alles nur noch schlimmer machen.

Der Sohn des Hades schaute sich um, doch er konnte keinerlei Einhorntrunk entdecken. Wütend fluchte er:
"Nicht mal Einhorntrunk? Echt jetzt?"
Er zerrte die kleine, fast leere Amphore, die Will ihm gegeben hatte, vom Gürtel. Der Trank war das Einzige, wirklich effektive Mittel gegen stygisches Eisen. Er nahm eine Schere und schnitt Will , der schwer atmete, aber nicht aufzuwachen schien, vorsichtig den Verband vom Arm, wobei die Wunde immer mehr anfing zu qualmen.

Endlich hatte er es hinbekommen, den Verband zu lösen, ohne direkt Will zu berühren.
Schnell tränkte Nico die frische Naht in Einhorntrunk und beobachtete, wie die Schwellung und der Qualm wieder zurückgingen.
Er versuchte sein bestes, einen neuen Verband um Wills Arm zu binden.

Danach ließ sich Nico auf den Stuhl sinken, sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt. Er konnte sich noch gut daran erinnern, als er sich mal mit stygischem Eisen an der Hand verletzt hatte.
Seine Wunde war immer wieder aufgerissen und hatte gequalmt, wenn er versucht hatte, sein Schwert zu halten. Wahrscheinlich reagierte Wills Wunde so jetzt auf allen Unterweltkram - Nico eingeschlossen.

Siehst du? , meldete sich eine kleine Stimme in seinem Kopf.
Du machst alles nur noch schlimmer. Nico musterte Wills, jetzt wieder friedliches, Gesicht.
"Ohne mich währst du wirklich besser dran.", murmelte Nico. Er spürte, wie die Schatten nach ihm griffen und ihn die Geister mit ihren rauchigen Stimmen dazu aufriefen, sich ihnen hinzugeben, einfach loszulassen.
Für einen Moment war der Gedanke, sich einfach in Schatten aufzulösen sehr verlockend für Nico, doch dann blickte er wieder in Wills bleiches Gesicht und er verwarf ihn schnell wieder.

Auch wenn er Nico jetzt vielleicht aus dem Weg gehen und genauso verabscheuen würde, wie alle anderen, war er trotzdem ein Grund für den Sohn des Hades, sich nicht den Schatten zu Fraß vorzuwerfen.
Nico hätte Will gerne über die Wange gestrichen, doch er wusste, dass eine Berührung diesem nur noch mehr zusetzen würde. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen.

"Hätte ich doch nur auf dich gehört.", flüsterte er.
"Hätte ich dir doch nur vertraut."
Nico fiel plötzlich ein, was Mr.D ihm gestern gesagt hatte.
Egal ob Freundschaft oder Beziehung, alles basiert auf Vertrauen. Wenn du nicht vertraust, werden die anderen dir niemals vertrauen.
Hatte Mr.D geahnt, was kommen würde? Schließlich war er ein Gott.

"Du wirst mir wirklich nie wieder vertrauen, oder?", fragte Nico leise. Jetzt lief ihm tatsächlich eine Träne über die Wange.
"Doch."
Das leise, kaum hörbare Flüstern kam von Will. Er hatte die Augen halb geöffnet und Nico schreckte zurück. Er war gleichzeitig schockiert, weil Will ihn gehört hatte und unglaublich erleichtert, dass er wach war. Nicos Herz wurde leichter und nur durch diesen einem Augenblick war Nicos Hoffnung um ein Vielfaches gestiegen.
Vielleicht hatte er doch nicht alles verbockt. Will schloss seine Augen langsam wieder und driftete zurück in den Schlaf.
Nico hatte es vorher kaum wahrgenommen, aber das schwache Leuchten um seinen Körper verschwand, als er die Augen schloss. Fast augenblicklich wurden die Schatten wieder dichter.

Was hoffst du denn noch, di Angelo?
Die Stimme begann wieder zu flüstern, dieses Mal lauter. Nico war sich jetzt sicher, dass sie aus den Schatten kam, was ihm allerdings nicht viel half, denn sie konnte von überall herkommen.
Allerdings war nur ein Ort so mächtig und dunkel, das die Verbindung durch die Schatten so funktionieren würde. Der Hades.
Es ist alles schon verloren., flüsterte die Stimme eindringlich.
"Hör auf!", sagte Nico laut und mit der Angst, er könnte Will aufwecken.

Siehst du denn nicht, dass alles, was du liebst schon über dem Abgrund schwebt, junges Halbblut?

"Halt die Klappe.", dachte Nico mit aller Kraft. Es gab nur eine Erklärung. Und diese trug unglücklicherweise der Namen "Achlys". Nico wusste, dass die Göttin des Elends sich während der Zeit im Tartarus von seinem Schmerz genährt hatte. Sie war sicher wütend gewesen, dass er wieder an die Oberfläche und somit aus ihrer Reichweite war.
Nico nicht.
Er war froh gewesen.

𝚃𝚛𝚞𝚜𝚝 𝚖𝚎 || 𝚂𝚘𝚕𝚊𝚗𝚐𝚎𝚕𝚘Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt