Sam erinnert sich (8)

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Ich stehe auf, deute mit beiden Armen ausgestreckt auf Maxine, breite sie dann aus und drehe mich im Kreis während ich erkläre. "Und wir leben noch immer glücklich mitten unter Euch." Gelächter, Applaus und Jubel umbrandet uns und Maxine lacht mit mir. Dann wird es langsam wieder ruhig und ich kann den Menschen ansehen, dass sie noch Fragen haben, doch die größte Frage steht Maxine ins Gesicht geschrieben. "Warum war es ein Problem, dass du schon acht Jahre alt warst?", erinnert sie mich an die Frage vom Anfang der Veranstaltung und ich zeige mit einem Nicken meine Bereitschaft an, ihr diese Frage jetzt zu beantworten. "In dieser Stadt nimmt man normalerweise keinen aus der Außenwelt auf, der älter als sechs Jahre ist. Bis zu diesem Alter ist es erwiesener Maßen möglich, fehlgeprägte Ideologien und falsche Loyalitäten auszumerzen. In mir jedoch sah man eher die Gefahr eines Schläfers, der sich anpasste und irgendwann zuschlug, wenn die Wachsamkeit der Stadt nachließ oder ein Befehl von außen mich ereilt." Max keucht auf. Sie hat sich bisher kaum bis gar nicht über dieses Thema informiert und ist geschockt. "Aber wir waren friedliche einfache Leute und haben nie jemandem was getan, unsere Eltern auch nicht. Wieso sollten wir zu Verbrechern werden?" Ich lache trocken. "Selbst auf Britanika gibt es Kinder die dort geboren sind und die nie etwas mit Verbrechern zu tun hatten, geschweige denn selbst jemals etwas verbrochen haben. Aber die Politik der Abschiebung sorgt auch für die wachsende Angst, dass etwas von dem, was man auf diesem Weg versucht los zu werden, seinen Weg zurück findet um sich zu rächen."

Meine Schwester muss das erstmal sacken lassen. "Verdammt, selbst wenn wir es also alleine geschafft hätten, währe das kein Happy End geworden?" Als sie diese Erkenntnis laut ausspricht nicke ich nur. "Ich wusste das auch nicht, hab es erst erfahren, als wir an den Toren der Stadt ankamen und ich mit soviel Abscheu behandelt wurde, dass ich es mit der Angst zu tun bekam. Mit meinem Psychologen musste ich bald viel eher dieses Thema verarbeiten, als die Schüsse, die ich auf einen Menschen abgegeben hatte. Dabei sind mir aber zwei Dinge klar geworden." Ich nehme ihre Hand und drücke sie. "Zum einen hätte es trotzdem ein Happy End gegeben, und zwar für dich. Zum anderen aber war es immer richtig, dich niemals aufzugeben. Ich glaube fest daran, dass das Schicksal mir geholfen hat, weil ich dir geholfen und dich beschützt habe und ich weiß, Mama und Papa wären sehr stolz auf mich." Verdammt, jetzt bekomme ich doch tatsächlich Tränen in die Augen, zum Glück umarmt mich meine Schwester erneut und gibt mir so die Möglichkeit, sie an ihrer Schulter zu verbergen und mich zu fangen, bevor ich mich der Menge erneut stelle.

"Um das Hätte-Spiel zu spielen, hätten wir es ohne die Soldaten geschafft, wäre ich vermutlich abgewiesen und verjagt worden. Keine Ahnung, was dann aus mir geworden wäre, aber sicher nichts Gutes. Du hingegen wärst vermutlich adoptiert worden und hättest mich mit der Zeit genauso vergessen wie alles andere, denn du warst so verdammt jung." Max drückt mich noch fester an sich. "Ich bin froh, dass es anders gekommen ist." - "Oh glaub mir, ich auch." Wir beiden lachen und als wir uns wieder an das Publikum wenden sehen wir doch tatsächlich selbst in den Augen der härtesten Soldaten ein verräterisches Glitzern. "Ich muss das, was da steht nicht weiter kommentieren. Stattdessen kann ich erzählen, was nicht mehr in diesem Buch steht. Wie sich heute herausstellte, hatten die Soldaten bereits herausgefunden, dass Max ein Mädchen war und auf dem Rückweg nach Europa hat sie sich ihnen gegenüber auch geoutet. Es war erstaunlich wie gut diese Information aufgenommen wurde und wie wenig sich dadurch zwischen uns veränderte, außer der Tatsache, dass Cicero jetzt immer rief - Junge, ähm ich meine Mädchen - wenn er Max meinte." Meine Schwester und Bassam kichern gemeinsam und ich kann mir ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.

"Für mich selbst kam der spannendste Moment der Offenbarung erst, als wir nach unserer Herkunft befragt wurden. Als ich den Ämtern unsere vollständigen Namen mitteilte sorgte das doch, für eine echte Überraschung." Ich sehe Mayhew nach dem Mikrofon greifen und bin gespannt, ob er erneut alles gewusst hat, doch er gesteht ein: "Ich gebe zu, ich werde nicht oft überrascht. Ein Hinterhalt muss gut geplant sein, um von mir nicht durchschaut zu werden," er macht eine kleine Pause um das sacken zu lassen und erneut klar zu stellen, was damals am Turm passiert ist, bevor er weiter spricht, "aber bis zum Schluss war ich überzeugt, dass du ein Junge bist." Ich kann nicht verhindern, dass ich vor Stolz fast platze. Wieder einmal sorgt Bassams Zwischenruf für Gelächter beim Publikum als er mir lauthals erklärt: "Für mich bist und bleibst du auf Ewig mein Junge!" Ja, und auch darauf bin ich enorm stolz.

"Veliko Duayne wurde unser Vormund, aber er war zu diesem Zeitpunkt schon mein Anführer und so wurde er in Kombination aus Dad und Veliko zu meinem Dediko. Aber auch die anderen waren immer für mich da, haben mich unterstützt und beschützt und mir geholfen wo immer ich um Hilfe gebeten habe und nicht selten auch da, wo ich nicht darum gebeten aber sie nötig hatte. Am Wichtigsten jedoch war, dass sie niemals verlangt haben, meine Eltern, insbesondere meinen Papa zu vergessen oder zu ersetzen, im Gegenteil, sie haben mit mir oft über ihn geredet und so die Erinnerungen an ihn frisch gehalten und auch an das, was er mir beigebracht hatte. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar und deshalb öffnete ich ihnen mein Herz und nahm sie als meine Dads darin auf." Maxine nickt verstehend als ihr klar wird, warum ihre Mom es niemals dorthin geschafft hat. "Mom wollte, dass wir alles hinter uns ließen, alles vergaßen, und unser neues Leben mit ihr anfingen. Ich war zu Klein und hatte Mama und Papa schon fast vergessen, als wir in Europa ankamen, aber für dich muss es wie ein feindlicher Angriff gewesen sein. Kein Wunder, dass du dich mit Händen und Füßen gegen sie und ihren Mädchenkram gesträubt hast."

Die Zuschauer sehen sich um auf der Suche nach unserer Pflegemutter und ich sehe wie Maxine ihre Stirn runzelt und dann direkt in eine der Kameras spricht. "Mom hat schlechte Erfahrungen mit Soldaten gemacht die sehr schlimm gewesen sein müssen, denn bis heute kann sie es nicht ertragen, mit Soldaten in einem Raum zu sein." Ich spüre ihre Verärgerung und weiß, dass diese Aussage mich und Maxines neuen Partner mit einschließt, doch schüttle mit dem Kopf. "Nicht", warne ich, denn ich weiß auch, dass sie das nicht in aller Öffentlichkeit auskämpfen will und sie nickt. "Mom hat sich wirklich gut um mich gekümmert und ich habe sie von Anfang an geliebt, weil ich endlich ein Mädchen sein durfte. Wir mochten einander und alles war gut. Es gab schon früher mal eine Zeit, in der sie immer stärker gegen meine Schwester wetterte und versuchte, einen Keil zwischen uns zu treiben, das war noch mal ein Tiefpunkt in meinem Leben. Ich wollte sie nicht verlieren, aber ich hätte mich niemals gegen meine Schwester gestellt. Zum Glück ließ sie irgendwann davon ab und Samantha einfach in Ruhe. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil sie sich von da an nur noch auf mich konzentrierte, aber Sam war glücklich damit und so war ich es auch." Maxines Erläuterungen werden von Habbo van Dyke kommentiert  und so erfahre ich endlich, was damals wirklich passiert ist. "Deine Mom hat damals beim Jugendamt angefragt wie die Chancen ständen, dich zu adoptieren. Zum Glück bekamen wir Wind davon und daraufhin hatten wir ein sehr ernstes Gespräch miteinander. Wir drohten ihr mit Entlassung, wenn sie nicht damit aufhört und sie hat sich am Ende entschieden, dich nicht im Stich lassen zu wollen und dafür zu akzeptieren, dass Sam eben anders ist. Sie hat es für dich getan."

Während Maxine noch versucht diese neuen Informationen zu verarbeiten, lenke ich das Interesse aller Zuschauer lieber auf unseren weiteren Werdegang. "Meine Dads waren meine ersten Trainer und als ich Volljährig wurde aber noch zu jung war für die Armee, weil man Frauen in Kampfpositionen erst mit 21 aufnahm, arbeitete ich bei der Stadtsicherheit. In dieser Zeit gelang es uns auch, einige der Verbrecher, die uns damals überfallen haben, dingfest zu machen. Leider war den Richtern die Aussage einer jungen Frau aus der Erinnerung einer Achtjährigen heraus nicht Grund genug, um diese Männer zum Tode zu verurteilen, deshalb wurden sie nach Britanika verbannt. Vor kurzem musste ich mich ihnen erneut stellen und obwohl ich bis heute nicht weiß, was aus meiner Mutter geworden ist und ob sie noch lebt, so bin ich doch froh, dass diese Männer nun endlich Geschichte sind."

Maxine hat sich wieder berappelt und erklärt stolz: "Ich wurde Ärztin und habe lange Zeit im Krankenhaus gearbeitet und war sogar verheiratet. Allerdings war mein Mann zu gerne bereit sein Bett auch mit anderen zu teilen und so trennte ich mich eines Tages von ihm und lebte seitdem alleine. Meine Zeit verbrachte ich lieber mit meiner Mom. Bis Samantha nach Nordwall versetzt wurde und ich mir meiner bedingungslosen Liebe zu ihr bewusst wurde, weil ich sie so sehr vermisste. Was sie heute erzählt hat erklärt mir endlich, warum ich so fühle und das sie es verdient hat. Vor kurzem lernte ich meinen neuen Partner durch sie kennen aber ich denke, das ist eine ganz andere Geschichte, die nicht heute Abend erzählt werden muss."

Ich lache und übernehme wieder. "Dads, ich werde nie vergessen, was ihr für uns getan habt und ich könnte euch nicht mehr lieben, wenn ihr meine echten Väter wärt." Maxine nickt zu meinen Worten, dann sehen wir uns an und erklären einstimmig: "Ende der Geschichte!", obwohl wir genau wissen, dass dieses Ende den Anfang unseres Lebens darstellte.

Sam & Max ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt