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Das grässliche Geräusch des elektrischen Rasierers sticht sich mir mit jeder Sekunde mehr in den Kopf. Während Locke um Locke ins Waschbecken fallen, versuche ich gegen die Tränen anzukämpfen, die sich in meinen Augen sammeln wollen. 

Manch einer würde darüber lachen, es sind doch nur Haare. Ja das stimmt, doch es ist ein deutliches Zeichen was für einen Kampf mein Körper gerade austragen muss und es ist nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt gewinnen werde. 

Die Chance liegt bei knappen fünfzehn Prozent, was es mir nicht leichter macht dagegen anzukämpfen, auch wenn ich es sollte. Kidd legt den Rasierer zur Seite, als ich den Blick hebe und mein neues Spiegelbild betrachte. Mein Gesicht sieht völlig verändert aus, die widerspenstigen Locken sind weg, genauso wie der freche Pony, den ich mir vor ein paar Wochen hab schneiden lassen. 

„Ich werde dich immer lieben, mit oder ohne Haare", flüstert Kidd hinter mir. Beugt sich nach unten und haucht mir einen federleichten Kuss auf meinen kahl rasierten Kopf. Ich lege meine linke Hand auf seine, die auf meiner rechten Schulter liegt und drücke sie sanft und versinke wieder in Erinnerungen.

***

„Der Film war schön, findest du auch?", frage ich Kidd. Seit dem Tag im Laden, haben wir uns nun schon viermal getroffen. Heute ist unser fünftes Date und ich fühle mich, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Er ist witzig, charmant und unheimlich einfühlsam. 

„Ja er war wirklich schön und so ergreifend", antwortet er und legt mir den Arm um die Schulter, als wir das Gebäude verlassen. Es ist April und während die Nachmittage immer wärmer werden, sind die Nächte dann doch vergleichsweise frisch. Ich hätte mich für eine etwas dickere Jacke entscheiden sollen, doch wenn der Wetterdienst fünfzehn Grad am Nachmittag mit sehr viel Sonnenschein vorhersagt, dann denkt man nicht an den darauffolgenden Abend. 

„Hier", meint Kidd und legt mir seine Lederjacke mit dem aufgenähten Emblem eines früheren Baseballteams, dessen Name mir leider überhaupt nichts sagt, um die Schultern und lächelt mich fürsorglich an. Ich bleibe stehen, fasziniert von dem dunkleren Blau-Ton, der seine Augen angenommen haben und schaue zu ihm auf.

„Was ist? Hab ich etwas im Gesicht?", fragt er und wischt sich einen imaginären Fussel von der Nase, was mich zum Lachen bringt. Während ich um meine innere Balance kämpfe, spüre ich seinen Blick auf mir ruhen. Der mich von innen heraus wärmt, bei ihm fühle ich mich wohl und geborgen. So eine Vertrautheit habe ich schon lange nicht mehr gespürt. 

„Du bist wunderschön, weißt du das Lilly?", sagt er ergriffen. Seine Stimme klingt tief und ein wenig rau, aber sie löst etwas in mir aus, das mich erdet. Es bringt mich dazu weiterzulächeln, während ich mich auf die Zehenspitzen stelle und ihn küsse. Seine Lippen fühlen sich warm und weich an, perfekt um sie zu küssen. Kidd zögert einen Augenblick, ehe er seine Arme um mich schließt und ihn erwidert.

Wir stehen da, mitten auf dem Gehsteig und küssen uns in aller Öffentlichkeit. Nichts Ungewöhnliches, aber für mich bedeutet es jede Menge. Allen voran, dass ich endlich jemanden gefunden habe, der mich vervollständigt und mich so lässt wie ich bin. Mit allen Facetten und Marotten die ich so habe. Eine solch pure Liebe habe ich mir schon immer gewünscht und kann es nicht glauben, dass ich sie im Kleidergeschäft zwischen Shirts und Jeans getroffen habe.

***

Kälte. Sie frisst sich durch meinen Körper, schüttelt mich ohne Gnade durch und lässt alles wie Espenlaub zittern. Meine Zähne klappern und das Geräusch, das sie erzeugen, hallt in meinen Ohren wider. 

Ich liege auf der Couch, zusammengerollt unter sechs Decken und friere immer noch, obwohl ich schwitze wie ein Schwein. Diese beschissenen Nebenwirkungen der Chemotherapie saugen einem die Lebensenergie aus dem Leib, um einen dann wieder auszuspucken, wenn es vorbei ist. Völlig durchnässt schäle ich mich unter den Decken heraus und setze mich an den Rand der sandfarbenen Kordcouch. 

Die Sein ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt