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In mir fühlt sich alles taub an. Da ist nichts mehr, außer das schwarze Loch in meinem Herzen, welches Lillys Tod in mir ausgelöst hat. Ihr Ableben hat mich zerstört, mir jegliche Kraft aus dem Körper gezogen. 

So war es nicht einmal, während ich sie pflegen musste. Da spürte ich noch Hoffnung, glaubte an eine Heilung. Doch jetzt ist nichts mehr, wie es einmal war und das macht mich fertig.
Noch immer hängt der Geruch ihres Parfüms in der Luft, selbst ihre Kleidung duftet noch nach ihr. 

Mit hängenden Schultern und blutendem Herzen stehe ich vor unserem Kleiderschrank und versuche stark zu sein. In meinen Augen sammeln sich bereits die Tränen, doch ich blinzle sie weg und atme tief durch.

„Bist du sicher, dass du sie nicht behalten willst?", erklingt die Stimme ihrer Mutter. Ich drehe mich nicht um, sondern schüttle nur stumm den Kopf und hole den ersten Stapel vom Regal und lege es auf unser Bett. In dem ich seit ihrem Tod nicht mehr geschlafen habe. Wenn ich nur daran denke, die leere Seite im Mondlicht zu betrachten, dann schnürt sich meine Kehle zu. 

Das Sofa unten im Wohnzimmer genügt mir vollkommen und obwohl mich alles an sie erinnert, ist es der einzige Ort, wo ich mich ihr wirklich nahe fühle. 

Die weißen Haare verdecken das Gesicht meiner Schwiegermutter, doch das leise Schluchzen verrät sie. Ich atme tief durch und gehe auf Susan zu, die sich schniefend aufrichtet und abwehrend eine Hand hebt. Sie atmet zittrig aus und versucht sich zu beruhigen.

„Sie war doch noch so jung", wispert sie. Ich schlucke gegen den Kloß an, der sich in meiner Kehle gebildet hat.

„Ich weiß, Susan. Ich weiß", sage ich leise und bin ratlos. 

Wie, soll ich ihr helfen, wenn ich mir nicht selbst helfen kann? Wie, soll ich für sie da sein, wenn ich mich allein fühle? Stumme Tränen rinnen ihr die Wangen runter, stille Zeugen mütterlicher Liebe und Trauer.

„Vielleicht solltest du nach unten gehen und etwas frische Luft schnappen", schlage ich vor und sehe sie nicken.

„Ist gut", meint Susan heiser und wendet sich von mir ab. Als sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist, atme ich tief durch und reibe mir über den Nacken, versuche den Kopf weiterhin über Wasser zu halten und räume den Schrank weiter aus. 

Dabei stoße ich auf den Pullover, der uns damals zusammen gebracht hat. Die Erinnerung daran zaubert mir, trotz der Eisenhand um mein Herz, ein Lächeln ins Gesicht. Als ich ihn herausziehe, fällt etwas zu Boden. Stirnrunzelnd hebe ich den Umschlag auf und erkenne ihre Handschrift sofort.

„Lilly", wispere ich und halte den Atem an. Ich setze mich aufs Bett und betrachte den Umschlag, drehe ihn in der Hand herum und weiß nicht, ob ich ihn wirklich öffnen soll. 

Vor was habe ich Angst

Davor, dass ich endgültig die Fassung verliere und zusammenbreche, oder, dass darin etwas steht, was ich nicht wissen möchte? Etwas, was alles verändern könnte. Aber, wenn ich es nicht tue, dann verleugne ich den letzten Wunsch meiner Frau und dass sie den Brief an einem so privaten Ort versteckt, zeugt doch nur davon, dass sie wollte, dass ich ihn irgendwann finde. Entschlossen öffne ich die weiße Hülle und ziehe den Brief heraus. Tief atme ich ein, ehe ich die ersten Zeilen lese.

Mein geliebter Kidd,

wie ich es mir gedacht habe, hast du den Brief gefunden. Ich habe ihn dort zwischen dem Pullover, mit dem alles angefangen hat, versteckt, weil er mir sehr am Herzen liegt. Denn durch dieses Kleidungsstück habe ich dich gefunden und dafür werde ich immer dankbar sein.
Selbst dann, wenn ich nicht mehr bei dir sein kann. Das Leben hat uns viel zu früh auseinander gerissen, doch bin ich für jede einzelne Sekunde dankbar. Wir haben vieles durchgemacht und in dieser Zeit bist du mir nie von der Seite gewichen.
Auch in der dunkelsten Zeit haben wir nie unsere Träume aus den Augen verloren. Ich bitte dich darum das auch jetzt, in diesen schweren Zeiten nicht zu tun.
Glaube an das Leben, Kidd, glaube an die Liebe, denn sie kann uns so viel geben. Ich wünschte ich wäre jetzt bei dir, würde neben dir sitzen und dir sagen, dass ich dich immer lieben werde. Selbst über den Tod hinaus. Doch das kann ich nicht.
Deshalb möchte ich, dass du etwas für mich tust. Reise für mich an den Ort meiner Träume, schaue dich für mich dort um. Lasse dich von den Möglichkeiten, die sich dir dort bieten, leiten. Denn auch wenn wir uns für eine sehr lange Zeit nicht wieder sehen werden, so weiß ich, dass ich immer in deinem Herzen sein werde. So, wie du in meinem Herzen bist. Fülle die Leere mit Bildern, Erinnerungen und Eindrücken und am Ende wirst du sehen, dass du mir nie näher warst.
Ich werde dich immer lieben.

Lilly

Die Sein ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt